Mischas Leiche wurde nie gefunden. Das einzige, was man von ihm fand, war sein an die Bank gelehntes Fahrrad. Was er nicht gewusst hatte, war, dass vor etwa acht Jahren ein Mädchen, das ungefähr in seinem Alter gewesen war, beim Schlittschuhlaufen in der Mitte des Teiches durch zu dünnes Eis gebrochen und ertrunken war. Auch ihre Leiche hatte man nie gefunden.
Ein paar Jahre später.
Ein junges Paar saß ineinander verschlungen auf einer Bank in einem Park. Sie sollten eigentlich auf einer Fete sein, doch sie wollten die Einsamkeit des Parkes zum Schmusen nutzen.
Weil es Winter war, hatten sie einen triftigen Grund, sich eng aneinander zu schmiegen, um die Körperwärme (und wahrscheinlich auch ein paar Körperflüssigkeiten) auszutauschen. Denn es war kalt. Und der Teich war mit einer Eisschicht überzogen!
Als sie ein "Hallo" hörten, fuhren sie erschrocken zusammen.
"Oh, wart ihr auch auf der Fete?" fragte der Schmuser. "Ist etwas warm da drinnen, nicht?"
"Nein", antwortete der Junge, der den Arm um sein Mädchen gelegt hatte. Sie trug ein Paar Schlittschuhe über der Schulter. "Habt ihr vielleicht Lust mitzukommen?" Mischa und das Mädchen lächelten. "Wir wollen das Eis testen!"
Müde rieb sich Kelly die Augen. Er gähnte. "Noch eins", rief ein halb Betrunkener. Wahrscheinlich war nicht er gemeint. Kelly ließ seinen Blick durch den Raum schweifen. Von seinem Platz am Piano konnte er alles sehen. Keine lohnenden Frauen, wie üblich. Um diese Zeit befanden sich ohnehin nur noch ein paar Kreaturen in der Bar, die normalerweise morgens von der Müllabfuhr entsorgt werden sollten. Wenn abends hübsche, reizvolle Frauen die Bar betraten, waren sie gegen Ende von Kellys Arbeitszeit schon mit irgendeinem anderen – oder irgendeiner anderen – verschwunden. Manche auch allein. Wie Kelly. Manchmal fragte er sich, ob ihn die Frauen überhaupt wahrnahmen, ihn, den Barpianisten. Wahrscheinlich nicht. Man beachtete ja auch nicht die Musicbox, wenn sie spielte. Und schon gar nicht verabredete man sich mit einer. Barpianisten waren eine vom Aussterben bedrohte Art.
Noch einmal ließ Kelly seine Finger über die Tasten gleiten, Pink Panther von Henry Mancini, sein Lieblingsstück, dann klappte er den Klavierdeckel zu und lehnte sich auf ihn. Jedes mal wenn er gegen vier Uhr seinen Deckel zuklappte war er hundemüde. Wie lange würde es dauern, bis man auch ihn durch eine Musikbox ersetzen würde? Sein Drink, Scotch Whisky, pur, ohne Eis oder Wasser, war halb ausgetrunken. Er kippte den Rest und ließ noch einmal seinen Blick durch die Bar wandern. Der Betrunkene an der Theke trank etwas, das Kelly nicht näher identifizieren konnte, wankte dann zum Zigarettenautomaten und verschwand anschließend in der Herrentoilette. Nur noch Kelly und der Barkeeper befanden sich im Raum. Der nickte Kelly zu, als er sich bückte, um seine Tasche vom Fußboden aufzuheben. Undeutlich hörte er, wie sich die Tür der Bar öffnete, jemand herein kam, dann dröhnten zwei Schüsse durch die Bar. Die Tür zur Herrentoilette ging auf, der Betrunkene erschien und wurde sofort von ein paar Schüssen niedergestreckt.
Vorsichtig, ganz vorsichtig, sah Kelly über das Piano. Eine hübsche Frau, eigentlich genau die Art Frau, nach der er sich verzehrte, eine, die er schon öfter gesehen hatte, sah auf die beiden Männer herunter, die sie gerade erschossen hatte. Ohne Kelly zu bemerken drehte sie sich um und verließ die Bar. Wie oft hatte er diese hübsche Frau angesehen, sie angelächelt? Sie hatte ihn nie wahrgenommen. Sie hatte ihn nie bemerkt. Sonst hätte sie sich daran erinnern müssen, dass sie den Barpianisten nicht erschossen hatte. Aber der Barpianist war ja so etwas wie eine Musikbox, stand da und spielte Lieder. Wen konnte eine Musikbox schon bei der Polizei verpfeifen? Nie hatte sie ihn auch nur bemerkt. Kelly war tief gekränkt. Oder wollte sie einfach nur nicht zur Ausrottung einer aussterbenden Art beitragen? Genau so fühlte sich Kelly, wie eine aussterbende Art. Immer, wenn er am Klavier saß und vor sich hinspielte...
...sah er in den Raum. Langsam kehrte er aus seinen Gedanken zurück. Die Bar war noch halb voll und ein paar Tische entfernt saß diese wundervolle Frau. Sie ignorierte ihn. Die Bar begann sich langsam zu leeren und Kelly stimmte den Pink Panther, sein Lieblingsstück an. Die wundervolle Frau verließ gerade die Bar, zusammen mit einem Bodybuilder, ohne ihn, Kelly, den Barpianisten auch nur eines Blickes gewürdigt zu haben. Kelly war froh darüber. Wer konnte schon wissen, zu welchen Gewalttätigkeiten diese Frau fähig war? Sein Blick richtete sich auf den Betrunkenen, der aus der Toilette zurückkam. Der Barkeeper nickte Kelly freundlich zu. Kelly würde heute ein paar Minuten früher gehen als sonst. Er hatte keine Lust, von dieser oder irgendeiner anderen wundervollen Frau erschossen zu werden. Es gab auch andere Frauen. Irgendwann würde seine Zeit kommen.
Schon seit einigen Tagen hatte ich mich schlecht gefühlt. Irgendwie war ich krank, also ging ich zu einem Arzt. Schon im Wartezimmer empfing mich dieser Geruch von Krankheit. Wie sollte man sich in so einer Atmosphäre besser fühlen?
Ich zündete mir eine Zigarette an, sah mich möglichst unbeschwert im Raum um und griff zu einer der Illustrierten, die man in meiner Vorstellung nur bei Ärzten und Friseuren findet. Welcher normale Mensch würde sich solche Zeitschriften kaufen? Vielleicht wurden sie extra für Wartezimmer geschaffen, denn viel Wissenswertes stand nicht darin. Es gab einen Bericht über die Frauen von Fußballspielern, über einen Friseur der Stars der dadurch inzwischen selbst zum Star geworden war, die unehelichen Kinder eines Tennisspielers, die Liebesabenteuer eines Torwartes und ähnliche Dinge, die weder mit Information noch mit Sport wirklich etwas zu tun hatten. Als ich gerade bei einem Artikel ankam, der mir sagte, dass eine Zigarette das Leben eines Menschen um acht Tage verkürzte, wurde ich zum Glück aufgerufen.
Kurze Untersuchung. Röntgen. Längere Untersuchung. Unverbindliche Auskunft. Ich sollte einen Kollegen aufsuchen, man könne keine endgültige Diagnose erstellen. Bei dem anderen Arzt wurde ich sofort durch das Wartezimmer hindurchgelotst – schlechtes Zeichen! Untersuchung, Röntgen, Vergleich der Röntgenbilder, Rückkehr mit düsterem Gesicht.
"Krebs", lautete die Diagnose. Einfach nur "Krebs". Prima, war der Abend doch gerettet. Keine Möglichkeit zur Operation. Ich hätte vor drei Jahren kommen sollen, da hätte es noch eine Chance gegeben. So sah das anders aus. Ich hatte höchstens noch eine Woche zu leben. Es täte ihm leid…
Mir tat es auch leid. Wirklich leid. Eine Woche, ein paar Tage mehr oder weniger. Schlechte Aussichten. Wirklich übelst. Ich brauchte frische Luft.
Draußen überlegte ich, was ich jetzt tun könnte. Aus dem Urlaub in zwei Wochen würde wohl nichts mehr werden. Hmm, was hatte in dem Artikel gestanden? Eine Zigarette verkürzt das Leben eines Menschen um acht Tage? Ich ließ mich auf einer Bank nieder, lehnte mich zurück und zündete mir, ganz langsam und in völliger Ruhe, meine letzte Zigarette an.
Die gute Zeit begann
An einem Morgen irgendwann
Es gab keine Kriege und auch keine Morde
Es gab keine gewalttätige Horde
Die Menschen hatten den Hass wohl besiegt
Hatten auch über die Krankheit gesiegt
Alle waren gesund und munter
Und nirgendwo ging es mehr drüber und drunter.
Seit einiger Zeit sah niemand mehr rot
Es war ein schlechtes Jahr für den Tod
Die Welt war friedlich und fröhlich und bunt
Die Menschen lebten nun alle gesund
Ernährten sich richtig, mieden Probleme
Krankheiten wurden seltne Phänomene
Читать дальше