»Guten Morgen, Eve. Ich bin in Begleitung.« Dr. Luise Kleist schaut mich mit ihren blauen Augen an. »Aeia und wie noch?«
»Engel«, höre ich die unverwechselbare Stimme aus den Lautsprechern meinen Nachnamen sagen.
Dann sieht Dr. Kleist auf den Monitor und runzelt die Stirn.
»Seltsam, Eve kennt dich bereits. Ich bin überrascht. Warst du schon einmal bei TREECSS?«
»Nein.«
»Mhm, wirklich komisch. Engel also? Dein Nachname ist Engel?«
Ich nicke.
»Was für ein schöner und treffender Name«, sagt sie und wendet sich dann wieder dem Monitor zu. »Also Eve, hör mir zu. Würdest du bitte Aeia Engel an ihrem ersten Tag helfen, sich zurechtzufinden?«
»Selbstverständlich Dr. Kleist, ich stehe Frau Engel zu Diensten.«
»Danke Eve.«
»Das ist eine Selbstverständlichkeit. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Tag.«
Lu nickt. »Danke.« Dann schenkt sie mir ihr makellos weißes Lächeln und sagt: »Ihr Kommunikationsverhalten muss ich unbedingt verbessern. Sie ist noch etwas hüftsteif.«
Sie meint das Computerprogramm. Wow, hat sie das etwa programmiert?
»Eve ist eine KIF«, erklärt Dr. Luise Kleist weiter.
Ich nage auf meiner Unterlippe herum. Höre wieder damit auf, als es mir selbst auffällt. »Eine KIF?«, frage ich.
»Künstliche Intelligenz und das F steht einfach nur für Freiheit. Sie besitzt einen fünfzigprozentigen Freiheitsgrad für Emotionen und Lernfähigkeit. Die zweite Hälfte wird durch determinierte Programmcodes gesteuert, die vor allem ihr soziologisches Verhalten und ihre rationalen Entscheidungen kontrollieren.«
»Hört sich kompliziert an«, sage ich flugs.
Lu muss lachen. »Ja, irgendwie schon. Irgendwie aber auch nicht. Sie wird dir auf alle Fälle helfen. Wir sehen uns dann gegen 12:00 Uhr in der Mensa, Okay? Bin gespannt auf deine ersten Eindrücke, Aeia.«
»Okay«, sage ich langsam. Meine ersten Eindrücke sind bereits jetzt schon heftig. Aber Dr. Luise Kleist gegenüber werde ich mich wohl gewählter ausdrücken müssen.
»Ciao Aeia«, lächelt sie zum Abschied. Ich lächle auch, wenn auch bestimmt nicht so perfekt. Lu befiehlt mit ihrem Fingerabdruck einen Fahrstuhl herbei und dann ist sie auch schon in dem Gebäude abgetaucht. Ich gehe auf den riesigen Monitor zu und räuspere mich, bevor ich mich vorstelle.
»Hallo«, sage ich zu dem Monitor und weiß nicht recht, ob ich einfach auf den Bildschirm schauen soll oder in das Mikro, das ich nicht finden kann.
»Hallo Frau Engel.«
»Muss ich jetzt meinen Daumen irgendwo hindrücken, damit Sie mich erkennen?«, frage ich.
»Ich bin Eve. Niemand spricht mich mit Sie an.«
Das ist nicht die Antwort, die ich erwartet habe.
»Dann bin ich einfach nur Aeia. Gleiches Recht auf beiden Seiten.«
Stille.
»Hallo Aeia.«
»Hi Eve. Und? Muss ich jetzt meinen Daumen irgendwo hindrücken?«
»Das ist nicht nötig, es befindet sich genügend organisches Gewebe von dir in diesem Raum, um dich zu identifizieren, Aeia.« Das hört sich seltsam an, wie die KIF mit mir spricht. Organisches Gewebe, um mich zu identifizieren? Es steckt wohl doch mehr hinter dem Sicherheitssystem, als nur ein simpler Fingerabdruck.
»Eve?«, frage ich.
»Ja, Aeia?«
Bilde ich mir das nur ein? Oder hat die KIF wirklich Spaß daran, meinen Vornamen auszusprechen?
»Heute ist mein erster Tag und ich muss wissen, wo ich hin muss, wie ich dort hinkomme und wie ich dann von dort zur Mensa komme«, sage ich und überlege kurz, ob diese geschachtelte Frage vielleicht zu viel für ein Computerprogramm ist?
Aber meine Sorgen sind unbegründet, denn der Bildschirm flackert kurz auf, um die Ansicht in zwei Hälften aufzuteilen. Links sehe ich meinen momentanen Standort und darunter die Ebene und den Namen, bei dem ich mich melden soll: Ebene 3, Gate 13, Professor Ronan Meusburger - Teamleiter GF, steht da und darunter so etwas wie ein Gebäudeplan und eine leuchtende blaue Linie, die den Weg nachzeichnet, den ich gehen muss.
Und das alles in 3D. Ich starre fasziniert auf den Monitor.
Rechts daneben, auf der zweiten Hälfte des Monitors, geht es dann zur Mensa: Ebene 0, Gate Mensa. In einer Gedankenblase steht eine Bemerkung: Geschätzte Dauer, bei normaler Schrittgeschwindigkeit, 12,356 Minuten bis zur Ankunft.
Ich freue mich über so genaue Informationen.
»Danke Eve, das ist super.«
»Das habe ich sehr gerne gemacht, Aeia. Kann ich noch etwas für dich tun, Aeia?«, fragt mich die KIF, als ich schon halb auf dem Sprung zu einem der Fahrstühle bin.
»Nein, vielen Dank.«
»Ich wünsche dir einen angenehmen Arbeitstag.«
»Oh. Danke. Ich wünsche dir auch einen tollen Tag.«
Ich wende mich dem Fahrstuhl zu und rufe ihn mit meinem Daumen herbei. Da flackert Eves Monitor noch einmal hinter mir auf und ich höre ihre sanfte Stimme, die sich kein bisschen elektronisch anhört.
»Aeia?«
»Ja, Eve? Ich stehe hier drüben.«
»Aeia, ich finde dich sympathisch und ich wünsche dir eine super schöne Zeit im Institut«, sagt sie. Ich fasse mir an den Mund, muss mir ein Lachen verkneifen. Ich verstehe nun, was 50% Freiheitsgrad und Lernfähigkeit bedeuten.
»Eve, ich finde dich auch sehr nett«, sage ich fröhlich und dann zischen schon die beiden Fahrstuhltüren direkt vor mir auseinander. Ich frage mich, wann es so etwas in meinem Leben schon einmal gegeben hat. Zwei Begegnungen, wo man sich so offen gesteht, wie sympathisch man sich findet. Noch nie, stelle ich fest und es spielt für mich keine Rolle, dass es sich bei der einen Person um ein Computerprogramm handelt.
Alex starrt ins Leere. Die Leiterin von Gate 11 kann ihn nicht aus der Fassung bringen. Abgebrüht lässt er die Strafpredigt über sich ergehen. Alex mag es nicht, fremdgesteuert zu werden.
Schon vor Jahren wurde er zu den Außenteams beordert. Aufgrund seiner Qualifikation: Führungs- und Methodenkompetenz. High Potential. So wurde es ihm gesagt.
Anfangs war er begeistert. Reisen. Fremde Kulturen. Flexibel in äußerst kniffligen Situationen ein Team zu koordinieren. Eine großartige Herausforderung. Ein wirklich großer Job. Anfangs war noch alles gut.
Zu seinen erfolgreichsten Einsätzen zählt jener vor fünf Monaten in Peru: Die Nazca-Ebene. Eine riesige Wüstenebene, die nach der Stadt Nazca benannt wurde.
Auf der Ebene sind auf riesigen, uralten Scharrbildern Vögel, Menschen, Affen, Wale und andere Wirbeltiere abgebildet, die nur vom Flugzeug aus zu erkennen sind.
Das größte Bild, ein Vogel, hat von der Schnabelspitze bis zum Fußende eine Länge von zwei Kilometern. Diese Bilder werden als Nazca-Linien bezeichnet. Über ihr Entstehen gibt es neben wissenschaftlichen Theorien zahlreiche weitere spektakuläre Spekulationen. Von prähistorischen, spirituellen Naturvölkern, bis hin zu Landebahnen für Außerirdische.
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