Ich schaffe es. Wische die Erinnerungen endgültig fort.
Alle.
Ich habe jetzt Levi und er würde mir nie etwas Schreckliches antun. Er wird mich hoffentlich niemals verlassen.
Ich bin liebenswert und ich kann sehr gut für mich selbst sorgen. Das ist es, was ich Levi zeigen will.
Meine Füße tragen mich über kühle Fliesen in die Küche, die gleichzeitig auch Wohn- und Esszimmer ist. Ich setze einen Kaffee auf, schmiere ein Marmeladenbrot und entdecke das getrocknete Blut auf dem Stück Papier auf dem Tisch.
Das Papier ist grau, faserig und alt wie Pergament.
Das Blut ist meins.
Ich sehe es noch in jeder Einzelheit vor mir, wie der rote Saft begierig von dem Vertrag aufgesaugt wurde. So als hätte er schon lange nur auf diesen einen Moment gewartet, so als hätte er nach meinem Blut gedürstet.
Ich lege das Marmeladenbrot aus der Hand, halte den Vertrag zwischen meinen Fingern. Ihn mit einem Tropfen meines Blutes und dem Abdruck meines rechten Daumens zu besiegeln, sollte mich vielleicht misstrauisch stimmen. Andererseits hat es auch etwas Spannendes an sich. Etwas Geheimnisumwobenes umgibt das TREECSS-Institut. Ein Blick auf die Küchenuhr drängt mich zur Eile. Ich gehe ans Fenster und rufe wie jeden Morgen nach meiner Katze Inka, die heute noch nicht zum Fressen erschienen ist. Vergebens. Sie kommt nicht.
Ich stelle ihr eine Tagesration Trockenfutter vor die Wohnungstür und ein paar Minuten später habe ich unsere kleine Studentenwohnung verlassen und steuere auf meinen Käfer zu, den ich in der Straße parallel zum Colombipark abgestellt habe.
Ich bin gerade im Begriff einzusteigen, als mich etwas Kleines, Schwarzes, Miauendes davon abhält. Inka kommt klagend und erzählend aus der Hecke, die die Straße vom dahinterliegenden Park abtrennt. Sie miaut wie eine Katze, die einen guten Fang gemacht hat. Einen Vogel oder vielleicht auch eine Maus.
Oh nein. Ich bringe es nicht übers Herz. Falls das kleine Ding noch leben sollte, muss ich ihm helfen. Ich beuge mich zu Inka hinunter, in der Hoffnung, nichts Totes zwischen ihren Fängen zu entdecken.
»Na, was hast du denn da?«, frage ich meine kleine Heulsuse, die sich nun schnurrend um mein Bein herumwickelt. Ich sehe, was sie stolz zwischen den Zähnen herumträgt. Sehe weder Fell noch Federn, nur Blut und Fleisch. Bevor mir das Frühstück hochkommt, wende ich mich ab. Da gibt es nichts mehr zu retten.
Plötzlich lässt Inka ihren Fang fallen und als ich begreife, was es ist, was da zu meinen Füßen liegt, wird mir doch übel. Ich stupse das Ding mit meinem Fuß an und verfolge geschockt, wie ein abgetrennter Daumen ein Stück wegrollt.
Irritiert stehe ich da und beobachte meine Katze, wie sie ihn ableckt.
»Igitt, Inka. Lass das!«
Ich bewege mich wieder, wende mich von Inka ab, hin zu dem Gebüsch, aus dem sie zuvor gekrochen ist. Langsam schiebe ich die Äste auseinander. Ich versuche, auf alles gefasst zu sein. Auf einen betrunkenen Obdachlosen vielleicht, der es nicht mitbekommt, wenn ihm meine Katze einen Finger abbeißt. Macht Inka so etwas überhaupt? Sind Katzen eigentlich zu so etwas fähig?
Ich werde brutal mit der Realität konfrontiert. Mir bleibt das Herz stehen, als etwas überraschend Schweres auf meine Hand rutscht. Etwas Grauen erregendes hat sich in den Ästen verheddert. Es ist die Hand zum fehlenden Daumen. Ich kreische, springe zurück. Taumle, bis ich mit dem Rücken am Auto stehe. Ein älterer Mann kommt vorbei. Sein Hund, den er Gassi führt, verjagt Inka und er fragt mich, ob er mir helfen könne, ob mit mir alles in Ordnung sei. Es vergehen nur Sekunden und ich benötige nicht einmal Worte, damit er begreift.
Ich befinde mich auf der A5, bin unterwegs zum TREECSS-Institut, als mich die aktuellen Meldungen im Radio in ihren Bann ziehen.
Eine Leiche wurde in den frühen Morgenstunden im Colombipark gefunden. Eine junge Frau hat das Opfer entdeckt.
Diese Frau bin ich.
Der Polizei zufolge handelt es sich bei dem Toten um einen Mann. In den Nachrichten schildern sie nicht, was ich mit eigenen Augen gesehen habe. Sie erwähnen nicht, dass dem Toten die Haut abgezogen wurde. Die Leiche wurde lediglich auf schrecklichste Art verstümmelt.
Furchtbar, zu welchen Dingen Menschen fähig sein können , meint der Nachrichtensprecher . Im idyllischen Colombipark, wo Schlösschen, Kiefern und Blumenbeete keine 100 Meter von dem Ort entfernt liegen, wo die Polizei ihre Wache hat.
Ein Mord in Freiburg. Direkt vor meiner Haustür.
Ich schalte das Radio ab. Kurble das Seitenfenster runter und atme ein paar Mal tief die sommerliche Luft ein. Solange, bis es mir besser geht und ich die gruseligen Bilder aus meinem Kopf verbannt habe.
Eine gute Stunde nach dem Horrorerlebnis komme ich mit meinen samtroten Käfer auf dem weitläufigen Areal des Instituts an. Es ist über die A5 in fast genau 45 Minuten Richtung Süden zu erreichen und befindet sich auf einer bewaldeten Anhöhe.
Das ganze Gelände und das ehemalige Schloss wurden von TREECSS vor Jahrzehnten aufgekauft. Ich habe das im Internet recherchiert. Leider war nicht viel mehr herauszufinden. Nachdem das Schloss und seine Nebengebäude drohten, aufgrund fehlender Mittel, zu zerfallen, wurde beschlossen, es in private Hände zu geben. Man erhoffte sich ein Stück Kultur zu bewahren.
Aber das, was ich jetzt von dem Gebäude durch die Windschutzscheibe sehe, ist bestimmt nicht das, was sich Historiker unter Erhaltung vorstellen.
Das alte Schloss ist zwar noch vorhanden, es macht jedoch lediglich einen Bruchteil des gesamten Komplexes aus. Es wurde von den Architekten beeindruckend in das Moderne integriert. Mein Blick schweift über verspiegelte Glasfronten, kantige Bürotürme und verspielte, kirchenähnliche Nebengebäude, die alle über Stege auf unterschiedlichen Ebenen miteinander verbunden sind. Ich bin baff. Habe nicht mit so etwas Imposantem gerechnet.
Ich steige aus meinem Käfer aus, blicke zurück und von der Anhöhe des Anwesens eröffnet sich mir ein grandioses Panorama. Das Rheintal mit den Vogesen ist zu sehen. Ich blicke gegen Süden. Der Dunstschleier hinter dem Jurakamm löst sich auf und die schneebedeckten Berge der Alpen treten in weiter Ferne hervor. Der Ausblick ist atemberaubend, lässt mich vergessen, was ich heute Morgen erlebt habe.
Ich reiße mich los, muss weiter und wende mich wieder dem Institutsgebäude zu. In seiner ursprünglichen Form hat es sich hunderte Jahre im Familienbesitz der von Kaltenbachs - einem alten Rittergeschlecht - befunden.
Lediglich der verspielte Rokoko-Dekor und die geschwungene Freitreppe, die hoch zu den Eingangsportalen führt, erinnern an die alten Bilder im Internet.
Ich schreite die Treppe hoch und fühle wieder, wie todmüde ich bin. Wie durch die Mühle gedreht. Ich beschließe, abends noch früher ins Bett zu gehen.
Dann stehe ich vor den verschlossenen Türen meiner zukünftigen Wirkungsstätte. Hier würde ich mein Studium beenden und Geld verdienen.
Aber zunächst studiere ich die Türen. Es gibt keine Klinke, keine Klingel.
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