„Meinst du? Und warum schickt mir jemand ausgerechnet eine Nachbildung von Neumanns Telefon?“
„Keine Ahnung. Aber irgendeinen Grund muss es dafür ja wohl geben. Aber darüber solltest du dir keine unnötigen Gedanken machen, das wird sich schon irgendwie aufklären.
Im Moment gibt es weitaus Wichtigeres als dieses kleine Telefon.“
„Und was?“
„Na, das von Neumann. Hast du noch nichts davon gehört?“
„Von Theo Neumann? Was soll ich denn von dem gehört haben? Ich bin ihm schon lange nicht mehr begegnet. Außerdem war er schon seit einer Ewigkeit nicht mehr in der Kirche“, erwiderte Rebecca mittlerweile im Wohnzimmer angekommen.
„Dann weißt du es also noch nicht“, stellte Birgit fest.
„Du sprichst in Rätseln, Birgit. Was soll ich nicht wissen?“
„Dass er tot ist, Rebecca. Theo Neumann wurde ermordet.“
„Was? Wieso denn das? Wer sollte ihn denn ermorden?“
„Das weiß ich doch nicht. Ich weiß nur, dass er die ganze Nacht tot hinter seinem Schreibtisch gesessen haben soll“, erzählte Birgit aufgeregt.
„Aber ermordet? Wie wurde er denn getötet?“
„Er wurde ertränkt.“
„Ertränkt? Wo?“
„Im Waschbecken. Wolfgang sagt, das ist alles sehr mysteriös. Ein Kriminalhauptkommissar von der Mordkommission Hamburg und dessen Kollege sollen den Mord an Neumann aufklären. Anscheinend soll das mit irgendeiner Sache vor fünf Jahren zusammenhängen. Aber mehr wusste Wolfgang auch nicht.“
Rebecca Mornay sank kreidebleich in einen Sessel.
„Was hast du, Rebecca? Du bist ja totenbleich. Geht es dir nicht gut?“
Wie eine aufgeregte Fledermaus flatterte Birgit um ihre Freundin herum.
„Einen Weinbrand. Schenk mir bitte einen Weinbrand ein, dann geht es mir gleich wieder besser“, flüsterte Rebecca tonlos.
Birgit eilte zu dem schmalen Beistelltisch auf dem einige Flaschen und Gläser standen. Sie nahm zwei Cognacschwenker und schenkte in jeden einen doppelten Metaxa ein, einen griechischen sieben Sterne Weinbrand, den sie beide gerne tranken.
Mit den beiden Gläsern ging sie zu ihrer Freundin und setzte sich ihr gegenüber auf die bequeme Couch. Sie schob Rebecca ein Glas hinüber. „Prost, Liebes“, sagte sie und nahm einen herzhaften Schluck. Genießerisch fuhr sie sich mit der Zungenspitze über die Lippen.
Sie liebte diesen griechischen Weinbrand, der sie an ihren letzten Urlaub auf Kreta erinnerte, den sie dort zusammen mit Wolfgang Klein verbracht hatte. Sie war mit ihm seit einem Jahr eng befreundet und erhoffte sich ein Ende vor dem Traualtar. Doch war sie klug genug, ihren Freund nicht zu bedrängen.
Birgit musterte ihre Freundin besorgt. „Etwas Farbe hast du schon wieder bekommen“, sagte sie erleichtert. „Was hat dich eigentlich plötzlich so mitgenommen? Neumanns Tod kann es ja wohl nicht gewesen sein, denn den mochtest du doch auch nicht besonders, oder?“
„Ich bin Pfarrerin, Birgt. Ich muss alle Menschen achten und ihnen helfen“, erwiderte Rebecca.
„Aber Theo Neumann konntest du nicht leiden, da bin ich mir sicher. Ehrlich gesagt, konnte ich diesen schmierigen, fetten Typ von einem Polizisten auch nicht ausstehen. Kein Wunder, dass der nie eine Frau abbekommen hat. Der war doch das reinste Brechmittel“, sagte Birgit abfällig.
„Na ja, besonders sympathisch war er nicht“, stimmte Rebecca ihr zu.
„Er war ein Brechmittel, gib es ruhig zu. Ich glaube er war nicht nur stinkfaul, sondern außerdem auch noch korrupt. Vielleicht hat man ihn für irgendetwas geschmiert, von dem niemand etwas wissen durfte. Zuzutrauen wäre es ihm.
Wovon soll er sonst sein Haus und den teuren Mercedes bezahlt haben? Um sich solchen Luxus leisten zu können, verdient ein Polizist einfach nicht genug. Und gut gelebt hat er ja auch noch, was kaum zu übersehen war. Dem hing seine fette Wampe ja schon fast bis zu den Knien“, sagte Birgit angewidert und schüttelte sich.
„Es wird gemunkelt, er sei vor einigen Jahren hoch verschuldet gewesen. Aber wovon hat er die Schulden bezahlt? Ich finde das alles schon ziemlich seltsam, du etwa nicht?“, fragte Birgit.
Sie sah ihre Freundin an, als diese nichts darauf erwiderte.
„Mein Gott, Rebecca! Du bist ja schon wieder ganz blass. Was ist denn bloß mit dir los? Bist du krank?“, fragte Birgit erschrocken.
„Ich glaube, mir steckt was in den Knochen. Vielleicht brüte ich ja eine Erkältung aus. Ich leg mich besser wieder hin“, erwiderte Rebecca schwach. „Sei mir bitte nicht böse. Aber ich hab nachmittags Termine, da muss ich wieder einigermaßen bei Kräften sein.“
„Aber ich bin dir doch nicht böse. Du kannst doch nichts dafür, wenn es dir plötzlich schlecht geht. Leg dich wieder hin. Vielleicht solltest du vorsorglich eine Paracetamol einnehmen. Mir hat das bisher immer geholfen, wenn ich nicht so gut drauf war“, riet Birgit ihrer Freundin.
„Kann ich sonst noch etwas für dich tun, Rebecca? Soll ich dir irgendwas besorgen?“
Rebecca schüttelte den Kopf. „Das ist lieb von dir, aber ich habe alles, was ich brauche. Ein wenig Ruhe wird mir wohl am besten helfen“, erwiderte sie müde.
Nachdem ihre Freundin gegangen war, nahm Rebecca das kleine Telefon in die Hand und sah es lange an.
Sie hatte sehr wohl den Sinn dieses Geschenks begriffen.
Es sollte sie an das erinnern, was damals geschehen war.
Und sie erinnerte sich daran.
Ein solches Telefon war es gewesen, über das ihre Planungen und Gespräche über den zeitlichen Ablauf ihres damaligen Vorhabens gelaufen waren.
Wie hatte sie nur glauben können, für ihre Komplizenschaft niemals zur Rechenschaft gezogen zu werden?
Wieso war sie so sicher gewesen ungeschoren davonzukommen?
Bei dieser Erkenntnis griff eine eisige Faust nach ihrem Herz und drückte es erbarmungslos zusammen.
Sie stöhnte voller Pein, rang krampfhaft nach Luft. Entsetzliche Furcht überflutete sie wie eine Woge. Sie zitterte am ganzen Körper, hätte sich am liebsten in einem Mauseloch verkrochen.
Nervenstark war sie nie gewesen. Und jetzt meldete sich erstmals nach dieser langen Zeit auch noch unvermittelt ihr schlechtes Gewissen, das sich bisher noch nie gemeldet hatte, da sie es bis heute je nach Bedarf hatte zum Schweigen bringen können.
Auch jetzt war es nicht Reue, die sich meldete. Oh nein, es war pure Angst, die sie umtrieb. Und auch ihr Glaube meldete sich, wenn auch mit leiser Stimme. Schließlich hatte sie als Pfarrerin geschworen, ihrem Gott nach bestem Wissen und Gewissen zu dienen.
Eine Lüge, bei ihrer dunklen Vergangenheit.
Hatte sie versagt?
Was würde nach ihrem Tod auf sie warten?
Würde sie dereinst im Fegefeuer landen? Gab es eine Vorhölle, obwohl sie bei manchen Kirchenleuten und Gläubigen als abgeschafft galt?
Sie hatte gesündigt!
Hatte schlimme Dinge getan, ihre Menschlichkeit verleugnet und mit Füßen getreten. Doch das Schlimmste daran war sicherlich, dass sie sich niemals dessen geschämt hatte.
Würde sie zur Strafe in der Vorhölle ihre Sünden abbüßen müssen, bevor sie vielleicht in das Reich Gottes eingehen durfte?
Nahte jetzt die Vergeltung? Die Strafe? Musste man sich seinen Verfehlungen stets irgendwann stellen?
Ja, wenn sie so abscheulich sind wie die deinen! , wisperte eine Stimme hinter ihrer Stirn.
Das Klingeln des Telefons riss Rebecca aus ihrer erstaunlichen Selbsterkenntnis, die allerdings nur kurzfristig und einzig und alleine ihrer Furcht und keineswegs ihrer Reue entsprang.
Sie erhob sich so steif und mühsam von ihrem Stuhl, als sei sie eine uralte Frau. Bedrückt schlurfte sie zu dem modernen Telefon, das auf einem Sideboard stand.
„Ja, bitte. Was kann ich für Sie tun“, fragte sie trotz ihrer Niedergeschlagenheit freundlich.
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