Er ging zum Waschbecken und stellte den Wasserzufluss ab. Dann drehte er sich zu Neumann um. Stumm sah er ihm eine Weile bei seinen sinnlosen Befreiungsversuchen zu. Als es ihm zu viel wurde, trat er neben ihn.
„Hören Sie sofort auf mit diesem sinnlosen Theater“, verlangte er scharf.
Neumann starrte ihn an.
„Sie möchten doch gerne wissen, wer ich bin und weshalb ich mich an Ihnen und Ihren Komplizen rächen will, nicht wahr?“
Neumann hatte seine nutzlosen Versuche sich der Fesseln zu entledigen eingestellt. Aus blutunterlaufenen Augen starrte er den Fremden regungslos an.
„Soll ich Sie lieber auf der Stelle umbringen? Oder soll ich Ihnen mein kleines Geheimnis verraten?“
Neumann nickte hastig. Zu sprechen vermochte er nicht, denn Todesangst schnürte ihm die Kehle zu.
„Also gut, ich will mal nicht so sein“, sagte der Fremde lächelnd. Er beugte sich zu dem Todgeweihten runter und flüsterte ihm etwas ins Ohr.
Neumann wurde kreidebleich. Er versuchte etwas zu sagen, kam jedoch nicht mehr dazu. Denn in diesem Moment presste ihm der Unbekannte den Elektroschocker an den Hals.
Als der Polizist sich nicht mehr regte, zerrte er ihn so weit hoch, dass er das Gesicht des Bewusstlosen ins Wasser drücken konnte.
Neumann zappelte, ob von dem Stromstoß oder vom Ertrinken war nicht gewiss, jedenfalls hielt der Fremde ihn bis zuletzt eisern fest.
Es dauerte nicht sehr lange.
Als es vorbei war, trocknete der Mörder Kopf und Gesicht des Toten mit einem neben dem Waschbecken hängenden Tuch ab. Er zog den Stöpsel aus dem Waschbecken. Dann schleifte er den Toten an den Füßen wieder zurück in den Wachraum.
Hier stemmte er Neumann keuchend hoch und setzte ihn auf den Stuhl vor dem Schreibtisch. Danach fixierte er den Körper des Toten mit einem weiteren Strick aus seinen unergründlichen Taschen, so dass er nicht zu Boden stürzen konnte.
Nachdem er alles zu seiner Zufriedenheit erledigt hatte, löste er die Fußfesseln des Getöteten und steckte sie ein. Er schloss die Handschellen auf und hängte sie zurück an Neumanns Gürtel.
Danach schloss er die Eingangstür zum Wachraum wieder auf, hängte den Schlüssel an den dafür bestimmten Haken und schaltete das Licht wieder an. Nach einem letzten Blick öffnete er die Tür und trat hinaus auf die um diese Zeit menschenleere Straße.
Er zog die dünnen Handschuhe aus, die er die ganze Zeit über angehabt hatte und steckte sie ebenfalls in seine Jackentasche. Der erste Schuldige hat seine verdiente Strafe erhalten, dachte er zufrieden.
Er straffte die Schultern und ging mit ruhigen Schritten davon.
Carola Carlsen unterbrach für einen Moment ihre Arbeit. Sie war gerade bei der Herstellung einer Rezeptur für eine Kundin und das bedurfte ihrer vollen Konzentration. Doch dieses kleine schwarze Telefon lenkte sie irgendwie ab. Nachdenklich betrachtete sie es.
In dunkelblaues Papier eingepackt, hatte es in einem kleinen braunen Kästchen morgens auf ihrer Fußmatte gelegen.
Das Päckchen hatte keinen Absender, nur ein dem Inhalt beigefügtes Kärtchen, welches vor ihr auf dem Arbeitstisch lag. Noch einmal las sie die darauf stehenden Worte:
ERINNERE DICH!
Sie wusste weder an was sie sich erinnern sollte noch wer ihr das Päckchen vor die Tür gelegt haben könnte. Doch seitdem sie es gefunden hatte, begleitete sie ein Gefühl drohender Gefahr. Allerdings war dieses beunruhigende Gefühl ihrer Überzeugung nach völlig unbegründet.
Also sperrte sie es kurzentschlossen in die hinterste Schublade ihres Gedächtnisses weg, um sich wieder ihrer Arbeit zuzuwenden.
Doch zu ihrem Erstaunen drängte sich unvermittelt eine Erinnerung aus der Vergangenheit hervor, die sie fast vergessen hatte. Und wieso auch nicht, schließlich war das alles ja schon eine Ewigkeit her. Aber wieso behelligte diese Erinnerung sie ausgerechnet jetzt?
Hatte vielleicht dieses Miniaturtelefon etwas damit zu tun?
Dabei war sie von der Überzeugung ausgegangen, diese unerquicklichen Gedanken für alle Zeiten in den tiefsten Bereich ihres Gedächtnisses verbannt zu haben, denn das damalige Geschehen hatte nichts mit ihrem heutigen Leben zu tun. Sie wollte diese Sache unbedingt vergessen, war nicht bereit auch nur eine einzige Sekunde daran zu verschwenden.
Es war vorbei!
Sie bereute nichts!
Doch Erinnerungen können manchmal außerordentlich hartnäckig sein.
Das Klingeln des Telefons holte Carola abrupt aus der Vergangenheit in die Gegenwart zurück. Irritiert starrte sie auf den Stößel in ihrer Hand und dann auf den kleinen dickwandigen Mörser vor sich auf dem Arbeitstisch.
Sie hasste es, bei der Arbeit gestört zu werden.
Doch das Telefon kümmerte sich nicht darum und läutete weiter.
Genervt nahm Carola den Hörer ab.
„Falkental Apotheke. Guten Tag, was kann ich für Sie tun?“, meldete sie sich ein wenig ungehalten.
„ Spreche ich mit Carola Carlsen?“, fragte eine dumpfe Stimme, die der Apothekerin Schauer des Unbehagens über den Rücken jagten.
„Am Apparat. Wie kann ich Ihnen helfen?“, fragte Carola.
„ Hast du mein Päckchen erhalten?“
„Sprechen Sie von dem kleinen Telefon?“
„ So ist es.“
„Ja, ich habe es erhalten. Was soll ich damit?“
„ Es soll dir helfen, dich zu erinnern.
Bis dahin werde ich dein unsichtbarer Schatten sein, so lange, bis du bereust und es an der Zeit ist, dein Leben zu beenden. Aber bevor es soweit ist, werde ich dich ruinieren und dir alles nehmen, an dem dein berechnendes Herz hängt“, erwiderte der Anrufer kalt.
„Wer sind Sie? Was wollen Sie von mir“, stieß Carola hervor.
„ Du hörst bald wieder von mir“, versprach der Anrufer und legte auf.
„Was war das denn?“, murmelte Carola Carlsen verwirrt. Sie starrte auf das Telefon als würde sie dort eine Antwort finden.
Was sollte dieser Anruf?
Bereuen? Was sollte sie denn bereuen?
Sie hatte doch niemandem etwas Böses angetan. Und was sollte diese Drohung bedeuten, irgendwann ihr Leben zu beenden?
Welchen Grund könnte jemand haben, sich ihren Tod zu wünschen?
Sie führte ein ruhiges Leben wie Millionen anderer Menschen auch. Sie hatte sich nichts zuschulden kommen lassen, sondern half den Menschen in ihrer Funktion als Apothekerin, soweit dieses möglich war.
Nein, sie hatte sich wahrlich nichts vorzuwerfen.
Ich bin ein wichtiges und angesehenes Mitglied der Gesellschaft und werde nicht zulassen, dass dieser Anrufer meinem Ansehen schadet.
Ich lebe nicht im Überfluss, habe keine Schulden, bin zwar gut situiert, jedoch keineswegs reich. Und die Apotheke gehört mir und sichert mein Auskommen und auch noch ein bisschen mehr, dachte sie zufrieden.
Als Mitglied mehrerer gemeinnütziger Organisationen spendete Sie für Bedürftige, war erfolgreich, beliebt und recht angesehen.
Ja, sie hatte sich in Falkental ein gutes Leben und eine einträgliche Existenz aufgebaut, die sie mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln schützen würde.
Feinde hatte sie keine, jedenfalls hatte sie das bislang angenommen. Allerdings hatte sie sich darin wohl anscheinend geirrt.
Und dann dieser Hinweis auf das kleine Telefon.
Was sollte das?
An was sollte es sie denn erinnern?
Die hochgewachsene, schlanke Apothekerin mit den meerblauen Augen strich sich nachdenklich eine blonde Haarsträhne aus dem schmalen Gesicht.
Was hatte der Anrufer damit gemeint, er würde von jetzt an ihr Schatten sein?
Sie erschrak.
Hatte sich etwa ein Stalker an ihre Fersen geheftet? Konnte das sein? Aber wer sollte so etwas tun? Schließlich war sie nur eine einfache Apothekerin und kein Pop Star.
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