„Willkommen im Hexenhäuschen“, flüsterte er leise und schritt auf den Granit zu, auf dem der Umschlag lag. Er streifte seinen Rucksack von den Schultern, stellte ihn auf den Boden und warf seinen langen Ledermantel darüber. Dann nahm er den Umschlag, setzte sich auf den Stein, öffnete den Brief und begann zu lesen:
Lieber Joaquin,
Herzlich Willkommen in San Diagos. Ich hoffe, Sie hatten eine angenehme Reise trotz des langen Fußmarsches, den ich Ihnen zugemutet habe. Sie finden in diesem Umschlag beiliegend den Haustürschlüssel. Fühlen Sie sich wie zu Hause. Es befinden sich vier Zimmer im Erdgeschoss des Hauses. Außerdem eine große Wohnküche, zwei Bäder, ein Keller und in der oberen Etage eine Dachgeschoss Wohnung. Der Schlüssel für die Dachgeschoss Wohnung befindet sich in meinen Besitz, da es sich um meinen Wohnraum handelt.
Für Ihr leibliches Wohl habe ich reichlich gesorgt, bevor ich am Freitag aus geschäftlichen Gründen nach Frankreich abgereist bin, so dass es Ihnen während meiner Abwesenheit an nichts fehlen wird!
Auf dem Küchentresen finden Sie vier Schlüssel und jeder Schlüssel ist mit einem Anhänger und einem Buchstaben versehen. Ihrer ist mit einem „J “ gekennzeichnet und verschafft Ihnen Zutritt zu Ihrem eigenen Zimmer. Ihre Zimmertür habe ich ebenfalls mit einem „J “ versehen.
Joaquin, und nun passen Sie sehr genau auf, was ich Ihnen mitzuteilen habe!
Es werden heute Nacht - bis in die frühen Morgenstunden hinein - drei weitere Personen zu Ihnen stoßen. Ein Mann und zwei Frauen. Sie werden jeder für sich im Abstand von jeweils drei Stunden eintreffen. Um 23 Uhr, um 2 Uhr nachts und am frühen Morgen um 5 Uhr. Seien Sie unbesorgt, alle drei Ankömmlinge sprechen perfektes Deutsch, so dass es keine Probleme bei der Verständigung geben wird. Für alle drei Personen liegen ebenfalls Schlüssel mit einem Buchstabenanhänger versehen bereit! Ich weiß, dass ich Ihnen viel zumute nach den langen Reisestrapazen. Ich werde morgen gegen Mittag von meiner kurzen Geschäftsreise aus Paris zurückkehren! Es tut mir aufrichtig Leid, dass ich bei Ihrer Ankunft nicht vor Ort sein konnte.
Noch etwas Wichtiges, Joaquin. Wundern Sie sich nicht, wenn Sie die Wohnküche betreten, dass Sie eventuell von einer Stimme begrüßt werden. Ich habe meinen Papagei „Lord Leroy“ umständehalber zu Hause gelassen. Er ist ein lieber Zeitgenosse, aber eben ein richtiges Plappermaul und sehr sprachbegabt. Aber er ist zahm und stubenrein. Ich hoffe, Sie mögen Tiere! Machen Sie es sich im Haus bequem und ruhen Sie sich ein wenig aus! Bis Morgen!
Herzlichst, Ihre Sophie Faunette
Bevor ich es vergesse: Lord Leroy versorgt sich selbst!
Joaquin ließ seine Hände sinken und ein kühler Windhauch streifte sein Gesicht. Er schaute den Weg hinunter, den er eben noch gegangen war und sah, dass sich der Eingang zwischen den Bäumen wie durch Zauberhand geschlossen hatte. Die Waldlichtung war nicht mehr zu sehen. Er war müde und hatte das Gefühl, seine Gedanken würden sich weigern, all die aktuellen Geschehnisse verarbeiten zu wollen. Es kam ihm alles so verschleiert vor, so als würde er sich in einem Traum befinden, aus dem er bald erwachen würde. „Muss wohl an der Hitze liegen“, dachte er bei sich und schlenderte auf den Brunnen zu. Eine kleine Abkühlung täte jetzt gut.
Am Brunnen angekommen griff er nach dem Eimer, der an einem langen Seil befestigt auf dem Brunnenrand stand und ließ ihn in die Tiefe fallen. Zu pumpen hatte er in seinem momentanen Zustand keine Lust und wer wusste, ob die Pumpe überhaupt noch funktionierte. Er hörte das Klatschen des Eimers auf dem Wasser. Langsam zog er den Eimer am Seil nach oben und stellte ihn wieder auf den Brunnenrand. Der Eimer war halb gefüllt mit kristallklarem Wasser. Joaquin tauchte beide Hände in den Eimer und stöhnte vor Erleichterung auf: „Oh, das tat gut, welch eine Wohltat!“ Er zog sich das völlig durchnässte Hemd aus, nahm den Eimer und schüttete sich das ganze Wasser auf einmal über den Kopf. Er spürte, wie seine Lebensgeister ein wenig zurückkehrten. Er schüttelte kräftig die Haare wie ein begossener Pudel und klemmte sich das Hemd unter den Arm. „Dann wollen wir mal eintreten in die neue Herberge“, murmelte Joaquin, nahm den Umschlag und löste den mit Klebeband befestigten Haustürschlüssel aus der Innenseite des Briefes. Der Schlüssel ließ sich leicht im Schloss drehen und die Tür sprang mit einem leisen „Klick“ auf. Er trat ins Haus und ihn empfing völlige Dunkelheit. Er ließ die Haustür offen, um durch das einströmende Tageslicht etwas sehen zu können. Er befand sich auf einem quadratisch angelegten Flur, zu dessen linken und rechten Seite sich jeweils zwei Türen befanden. Geradeaus war eine Tür am Ende des Flures nur angelehnt. Ein leichter Lichtkegel quoll seitlich aus dem Türspalt heraus. Joaquin ging auf diesen Lichtkegel zu und zog die Tür auf. Er betrat den Raum und stand inmitten einer großen Wohnküche. Augenblicklich durchströmte ihn ein angenehmer, wohltuender Schauer, der sich am ganzen Körper ausbreitete. Die Wohnküche strahlte eine Behaglichkeit aus, wie Joaquin sie noch nie empfunden hatte.
Die Wände waren farblich in einem dunklen Orange gehalten. Überall an den Wänden hingen Töpfe und Pfannen verschiedenster Größen und Epochen. Uraltes Fachwerk durchzog die gesamte Küche. An der rechten Küchenwand befand sich ein großer Kamin aus hellbraunen Steinen und daneben - ordentlich übereinander gestapelt - das Brennmaterial aus zersägten Hölzern. Der Küchenboden war aus massivem Holz und in der Mitte der Küche stand ein großer Eichentisch, um den herum sechs antike, behagliche Holzstühle standen, die alle mit Schaffellen überzogen waren. An den Wänden hingen außerdem antike Kerzenleuchter, bestückt mit Honigwachskerzen. Rechts neben der Tür stand ein dunkelrotes Sofa und daneben ein Regal, gefüllt mit vielen Büchern. Die gegenüberliegende Seite bestand aus einer einzigen und riesengroßen Glasveranda, die zur linken und rechten Seite geöffnet werden konnte. Der Ausblick war gigantisch! Man schaute direkt in einen wunderschönen, weit angelegten Garten, in denen Blumen verschiedenster Gattungen und Farben in bunter Pracht leuchteten. Durch den direkten Blick in den Garten hatte man das Gefühl, als würde er ein Teil der Küche sein. Die linke Küchenhälfte war hinter einem orangefarbenen Vorhang verborgen.
Joaquin war neugierig, was sich wohl hinter dem Vorhang verbarg, und zog ihn zur Seite. „Willkommen im Club! Willkommen im Club!“ krächzte eine laute Stimme ihm entgegen. Joaquin sprang entsetzt einen Schritt zurück. Auf einem Käfig thronte ein farbenprächtiger Papagei, der ihn mit leicht geneigtem Kopf neugierig ansah und aufgeregt sein Gefieder sträubte.
„Willkommen im Club! Willkommen im Club! Willkommen im Club, Joaquin!“ kreischte Lord Leroy zum wiederholten Male und stieß ein fürchterlich hohles Gelächter aus. Im selben Moment breitete der Papagei die Flügel aus, hob vom Käfig ab, flog direkt auf Joaquin zu und landete auf dessen linker, nackter Schulter.
„Autsch!“ Joaquin zuckte zusammen und ließ vor lauter Schreck das unter den Arm geklemmte Hemd zu Boden fallen. Er spürte, wie sich die scharfen Krallen des Vogels in sein Fleisch bohrten. Als würde der Papagei Joaquin schon ewig kennen, knabberte er behutsam an dessen linken Ohrläppchen und stieß dabei ein paar wohlige Laute aus. Etwas irritiert von solch stürmischer Begrüßung hob Joaquin vorsichtig eine Hand und strich behutsam über das Gefieder des Vogels.
„Hallo“, flüsterte Joaquin etwas zaghaft, „nett, dich kennen zu lernen. Aber würdest du mir, bitte, mal verraten, woher du meinen Namen kennst? Und für die Zukunft, mein Freund, möchte ich dich doch höflichst darum bitten, etwas vorsichtiger mit deinen Sympathie Bekundungen zu sein, weil ich mir sonst nämlich Stahlkappen um die Schultern legen muss.“
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