Am nächsten Tag klettert die Quecksilbersäule des Thermometers über die 20 Grad-Markierung. Wir bekommen von Rusty T-Shirts mit dem Logo seines Ladens geschenkt und machen uns damit wieder auf den Weg in Richtung Süden. Ich überrede Sjaak, eine Nacht auf einem Campingplatz zu verbringen. Dort haben wir keinen Internet-Anschluss und können deshalb keine Videos verschicken. Aber ich hatte sowieso nicht damit gerechnet, dass wir jeden Tag ein Video ins Internet stellen können, und das auch Sjaak gegenüber so geäußert. Diesen Punkt haben wir jedoch offensichtlich vor der Abreise nicht ausreichend geklärt.
Das Aussortieren und Versenden der Videos erweist sich als großer Zeitfresser. Sjaak lässt sich dabei weder in die Karten schauen noch helfen. Und der Mac kommt mit den Videos der Canon-Kamera auch nicht zurecht. Er macht unendlich große Dateien daraus und ich kenne mich momentan weder mit Videos noch mit dem Mac aus. Aber von Sjaak bekomme ich auch keine echten Anreize, mich damit auseinanderzusetzen. Denn eine Diskussion darüber, wie wir das Ganze effizienter gestalten könnten, ist völlig ausgeschlossen. Sjaak hat seinen Plan und ist darin so gefangen, dass er jede davon abweichende Idee wie einen persönlichen Angriff abwehrt. Vielleicht treffe ich auch ganz einfach nicht den richtigen Ton. Auf alle Fälle habe ich bereits in New York aufgegeben, mich einzumischen. Eigentlich finde ich das schade, weil ich glaube, dass wir unsere gegensätzlichen Denkweisen auch als Vorteil nutzen könnten, um kreative Lösungen zu finden. Aber es gelingt uns leider nicht.
Zudem macht sich Sjaak auf dem Campingplatz Sorgen wegen seinem Gepäck. Er kann zwar den Deckel seiner Topbox mit Vorhängeschlössern abschließen, die Kiste selbst kann man aber theoretisch komplett mitnehmen, wenn man weiß, wie das geht. Und die Zega-Boxen haben gar keine Schlösser. Sie können jedoch nur dann geöffnet werden, wenn die Topbox abmontiert oder zumindest verschoben wird. Deshalb sehe ich das Ganze etwas gelassener. Wir sind auf einem Campingplatz in einer ländlichen Gegend in Nordamerika, also dort, wo die Leute zum Teil sogar die Türen ihrer Häuser unversperrt lassen. Unglücklicherweise bringt meine Gelassenheit Sjaak nur noch mehr in Rage, anstatt ihn zu beruhigen. Also versuche ich, den lauen Abend unter dem Sternenhimmel für mich alleine zu genießen. Die anderen Gäste des Campingplatzes leben in zwei großen Wohnmobilen und kommen erst, als wir bereits in unsere Schlafsäcke gekrochen sind. Schade. Ich hätte mich gerne noch ein bisschen nett unterhalten.
In Florida zeigt das digitale Thermometer an meiner BMW gegen Mittag ganze 29 Grad Celsius an. Wir halten an einer Tankstelle und befreien unsere Anzüge von ihrem Thermofutter. Dabei stellen wir lachend fest, dass keiner von uns daran gedacht hat, dünne Handschuhe mitzunehmen. Meine BMW hat zwar eine Griffheizung, aber keine Kühlung. Und wir fahren beide nicht ohne Handschuhe. Wir sind uns einig, dass das zu gefährlich ist, weil es ein normaler Reflex, bei einem Sturz ist, sich mit den Händen abzustützen. Und es ist ziemlich sicher, dass dabei hässliche Schürfwunden entstehen, wenn die Hände nicht geschützt sind. Aber erinnert mich Sjaak, dass ich den doppelten Kragen an meiner Jacke abnehmen kann. Das macht einen großen Unterschied, und ich bin ihm sehr dankbar.
Ein Kunde von Rusty hat uns Gutscheine für ein paar Restaurantketten geschenkt. Aber zur rechten Zeit finden wir kein passendes Gasthaus und halten deshalb bei einem Gyrosstand. Typisch amerikanisch auf seine Weise, schließlich ist Amerika eine Vielvölkernation. Außerdem können wir uns auf diese Weise die Gutscheine für eine besondere Gelegenheit aufheben, überlege ich bei mir.
Das Wetter ist wie geschaffen, um Motorrad zu fahren, und wir fallen eigentlich nur deshalb auf, weil wir riesige Berge an Gepäck dabei haben. Jack, den wir an einer Tankstelle südlich von Palm Beach treffen, interessiert sich außerdem für meine BMW F 800 GS und inspiziert sie neugierig. Der Immobilienmakler fährt selbst eine BMW R 1150 GS, gibt mir seine Adresse in Sarasota, an der Westküste Floridas, und lädt uns spontan ein. Er habe ein großes Haus mit Garage, sagt er.
»Dort darfst auch du mit deiner Yamaha parken«, verspricht er Sjaak mit einem lustigen Augenzwinkern. Dann verabschieden wir uns. Er hat einen Termin in Miami und wir wollen nach Key West, um unsere Reise endlich offiziell zu beginnen.
Am Abend erreichen wir die Stadt Key Largo. Eigentlich wollten wir auf einem Campingplatz mit Internetanschluß übernachten. Aber als Sjaak sich nach dem Weg erkundigt, lädt uns der Angesprochene zu sich nach Hause ein. Er heißt Jeff und wohnt in einem einfachen Bungalow hinter dem Betriebsgebäude seiner Eltern. Diese haben eine Eisenwarenhandlung, in der Jeff tagsüber arbeitet. Nebenbei schaut er regelmäßig durch den Abfall des nahe gelegenen Supermarktes und nimmt dort Sachen mit, die man noch benutzen kann. An diesem Tag hat er beispielsweise ein paar kleine Setzlinge mitgenommen, die so vertrocknet und müde sind, dass sie niemand mehr kaufen will.
»Aber wenn ich sie ein bisschen pflege, dann erholen sie sich bestimmt wieder und ich kann sie weiterverkaufen«, erzählt er voller Begeisterung und fügt hinzu: »Es ist doch schade, wenn solche Sachen einfach weggeschmissen werden.«
Ich stimme ihm von ganzem Herzen zu. Unserer Wegwerfmentalität fehlt meiner Meinung nach der Respekt, vor dem Leben von Pflanzen und Tieren ebenso wie vor der Arbeit anderer. Auch die billigen Ein-Euro-Artikel müssen produziert werden. Dies geschieht meistens in Billiglohnländern, in denen die Umweltrichtlinien und Arbeitsschutzbestimmungen nicht so streng sind wie bei uns. Dabei frage ich mich oft, ob unser Wohlstand uns tatsächlich das Recht gibt, Produkte gering zu schätzen, die billig sind. Weil es Länder gibt, deren Menschen so arm sind, dass sie sich keinen Protest und keinen Widerstand gegen die Großkapitalisten leisten können. Weil es Eltern gibt, die lieber ihre Gesundheit ruinieren, als ihre Kinder verhungern zu lassen. Ich würde mir wünschen, dass wir uns vielmehr durch unseren Reichtum verpflichtet fühlen, mit einem bewussten Einkauf derartige Missstände zu bekämpfen. Denn in der Welt des Kapitalismus sind es die Konsumenten, die die Macht in ihren Händen beziehungsweise in ihren Geldbörsen halten.
Jeff räumt sein Gästezimmer frei, kocht ein leckeres Abendessen und lädt uns ein, so lange zu bleiben, wie wir wollen:
»Ich muss morgen dort drüben arbeiten. Wenn ihr etwas braucht, könnt ihr jederzeit kommen«, bietet er uns an. Als er hört, dass wir am nächsten Tag nach Key West wollen, fügt er hinzu:
»Kommt am Abend einfach wieder vorbei. Sollte ich selbst nicht da sein, ist die Haustüre offen und ihr könnt euch wie zuhause fühlen.«
Das ist Amerika, wie ich es kenne. Locker und unkompliziert, gastfreundlich und offen. Wobei mir selbstverständlich bewusst ist, dass es enorm hilft, dass Sjaak und ich weiße Christen aus Europa sind. Einem deutschen Freund von mir, der schlecht Englisch spricht und einen arabischen Nachnamen hat, haben die Sicherheitskräfte auf dem Flughafen von Miami nach den Attentaten vom 11. September erst einmal die Nase blutig geschlagen, bevor sie ihn weiterfliegen ließen.
Sjaak und ich haben für diese Reise viel Unterstützung von verschiedenen Firmen erhalten. Die teure Ausrüstung hätten wir uns nicht leisten können. Schließlich müssen wir auch noch die Reisekosten bezahlen. Als kleines Dankeschön wollen wir Aufkleber auf unseren Motorrädern anbringen. Sjaak hat schon länger Sponsoring — und damit auch Aufkleber — Erfahrung. Er prophezeit mir schon seit Tagen, dass wir dafür viele Stunden brauchen werden. Und er soll recht behalten. Wir sind bis zum frühen Nachmittag damit beschäftigt, hübsche Plätze für die jeweiligen Aufkleber zu finden, die Stelle zu putzen und dann die Aufkleber falten- und blasenfrei dort anzubringen. Sjaak zeigt mir, dass man einen Aufkleber nachträglich noch ein bisschen verschieben kann, wenn man die Klebefläche vorher nass macht. Ein schöner Trick, den ich mir merken werde.
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