Machiavellis Verhaltensempfehlungen für absolutistische Herrscher waren für den Umgang mit anderen Fürsten gedacht. Da diese Fürsten der Auffassung waren, der „Staat bin ich“, war jede ihrer Lügen eine Lüge aus Staatsräson. In den modernen Demokratien ist das Volk der Souverän und dennoch scheinen viele Volksvertreter Machiavellis Empfehlungen zu folgen.
Aber die Versuchung, es mit der Wahrheit nicht genau zu nehmen, ist offensichtlich für alle groß. Jeder von uns lügt durchschnittlich zweihundertmal am Tag oder zweimal in einem zehnminütigen Gespräch, haben Psychologen herausgefunden. Deshalb urteilt der Kabarettist Dieter Nuhr auch nachsichtig über Politiker: „Die sind doch nicht ehrlicher oder verlogener als wir alle. Politiker sind ein Spiegel ihrer Wählerschaft 1.“
Und was würde wohl aus mancher Freundschaft, was aus mancher Partnerschaft, wenn man immer geradeheraus die ungeschminkte Wahrheit sagte? Die lässlichen Lügen retten so manchen Abend, manchmal sogar Beziehungen oder Arbeitsverhältnisse, ohne dass sie gleich zu Lebenslügen werden. Wer kennt sie nicht, die kleinen Lügen aus Höflichkeit, die „white lies“, die Schlimmeres verhindern sollen? Spricht der Volksmund nicht die Wahrheit, wenn er sagt: „Wer immer ganz offen ist, kann nicht ganz dicht sein?“. Hat nicht Heiko Maas, der Chef der Saar-SPD recht, wenn er, wie bei der Entgegennahme des humoristischen „Erz-Lügner-Toton-Preises“ 2006, spottet: „Die schlimmste Wahrheit ist die halbe Wahrheit, aber in schlechten Zeiten wie diesen muss man auch mal mit der Hälfte zufrieden sein. Die Schlimmsten sind nicht die, die manchmal die Unwahrheit sagen, sondern die, die keinen Spaß verstehen.“
Sicher können Täuschungen und Vorspiegelungen falscher Tatsachen ihren humoristischen Reiz haben, man lacht ja gerne über Aprilscherze oder Fernsehsendungen wie „Verstehen Sie Spaß?“, wenn man an der Nase herumgeführt wird. Aber wenn Politiker Wähler an der Nase herumführen, hört der Spaß auf.
Üb immer Treu und Redlichkeit singt heute kaum noch jemand, Loblieder auf die Lüge sind häufiger zu hören. Claudia Mayer schrieb in ihrem Buch „Lob der Lüge“, Lügen gehörten zum Leben und zum Menschsein, sie seien Evolutionsmotor, Überlebensstrategie und eine Art soziales Schmiermittel, sie hielten unsere Welt zusammen. Die Autorin übersah allerdings, dass es in der Politik und in der Gesellschaft nicht anders ist als in einer Partnerschaft oder einer Familie. Eine Lüge zieht die nächste nach sich. Die Lügner verirren sich in ihrem Labyrinth der Unwahrheiten und finden nur schwer wieder heraus. Sie müssen kehrt machen. Spätestens dann sind sie entlarvt.
Trotz dieses Entdeckungsrisikos stimmte der Göttinger Politologe Franz Walter im Spiegel 2einen Lobgesang auf die Lüge an. In der Politik gehe es um Macht, nicht um Sinnstiftung, nicht einmal um Glaubwürdigkeit, schrieb Walter und fügte hinzu: „Ein Politiker, der ein „grundehrlicher Kerl“ sein möchte, wäre eine katastrophale Fehlbesetzung“.
Sicher mag es erhellend sein, wenn die Psychologie feststellt, dass Lügen menschlich ist, auch das Tierreich kennt Tarnung und Täuschung zur Erlangung evolutionärer Vorteile, aber Demokratie ist auf Wahrheit angewiesen. Die Bürger müssen wissen, welche Wahl sie haben und was sie wählen, sonst verkommt jeder Urnengang zur Farce. Sie müssen den Gewählten vertrauen können. Politiker, die wider besseres Wissen falsche Versprechungen machen, müssen mit medialen Ausbrüchen der Empörung rechnen, wenn ihre Lügen entdeckt werden, sie unterminieren das Vertrauen in das demokratische Staatswesen an sich. Auch Politiker, die ein erkanntes Problem und dessen Lösung verschweigen, lügen auf eine subtile Art. Werden sie der Lüge überführt, ist nicht nur ihr eigenes Ansehen beschädigt. Ihr Verhalten entmutigt diejenigen, die sich engagieren wollen, sie vermehren die Politikverdrossenheit und stärken das Lager der Nichtwähler.
Nach einer Umfrage vom April 2008 haben noch 60 Prozent der Deutschen Vertrauen in das demokratische System der Bundesrepublik. Im Osten gilt das nicht einmal mehr für die Hälfte der Befragten (44 Prozent) 3. Das sind alarmierende Zahlen. Wie viel von diesem Vertrauensverlust mag auf das Konto der Valium-, Leimruten-,Verharmlosungs- und Verdrängungslügen, der falschen Versprechungen und Wortbrüche gehen?
Die meisten dieser Lügenvarianten sind schon vor einer Wahl zu erkennen, nicht nur, weil der politische Gegner mit Lügenvorwürfen schnell bei der Hand ist, sondern weil Journalisten die falschen Verheißungen und Versprechungen kritisch unter die Lupe nehmen. Die Medien checken Behauptungen und Versprechungen und verfolgen Wortbrüche. Der Pinocchio-Test der Washington Post und der Münchhausen-Test des Spiegel hat schon manche falsche Behauptung eines Politikers offen gelegt. Frank Plasberg lässt nach einer Hart, aber fair-Sendung Kernaussagen der Gesprächpartner durch Experten überprüfen und veröffentlicht die Ergebnisse auf der Homepage seiner Sendung.
Doch so mancher kritische Bürger sieht Politiker und Journalisten beim Lügen in einem Kopf-an-Kopf-Rennen. Die durch Politikinszenierungen geprägte „Mediendemokratie“ ist zwar eine Karikatur, denn die Medien herrschen nicht, aber wie jede Karikatur enthält auch diese einen Funken Wahrheit. Die Medien haben Macht. Deshalb müssen sie sich auch fragen lassen, wie verantwortlich sie mit dieser Macht umgehen und wie glaubhaft, wie wahrhaftig sie als mediale Wächter der Wahrheit selbst sind.
Der italienische Schriftsteller Carlo Collodi hat vor mehr als 130 Jahren die märchenhaft-phantastische Erzählung „Die Abenteuer des Pinocchio“ verfasst. Es ist die Geschichte einer Holzpuppe und ihres schwierigen Wegs der Menschwerdung. In pädagogischer Absicht gab Collodi der Puppe Pinocchio eine Nase, die lang und länger wird, wenn er lügt, um Kindern damit ein abschreckendes Beispiel zu geben. Doch wie schon Maria Bettentini in ihrer kleinen Geschichte der Lüge kritisch anmerkt, wird den Kindern das Lügen durch eine Drohung verboten, die selbst eine Lüge ist. „Oder hat schon jemals einer eine Nase wachsen sehen aus einem anderen Grund als wegen eines Schnupfens?“
Auch Politikern kann man es nicht an der Nase ansehen, ob sie die Wahrheit sagen. Den „Pinocchio-Test“ muss man also auf andere Weise machen.
Ist der Ruf erst ruiniert …
„Es wird niemals soviel gelogen wie vor der Wahl,
während des Krieges und nach der Jagd“
Otto von Bismarck
Als die amerikanische Senatorin und US-Präsidentschaftsbewerberin Hillary Clinton im Vorwahlkampf der Demokraten im Frühjahr 2008 über ihren Besuch in Bosnien im Jahre 1996 berichtete, tischte sie mächtig auf. Sie erzählte, sie sei bei der Ankunft in Tuzla unter das Feuer von Heckenschützen geraten und mit gesenktem Kopf über das Rollfeld gerannt. US-Fernsehsender zeigten dagegen Bilder, auf denen Clinton und ihre Tochter Chelsea lächelnd und entspannt aus dem Flugzeug stiegen. Die Realität war undramatisch. Es gab sogar eine Begrüßungszeremonie.
Die Washington Post verlieh Hillary Clinton für ihre Schilderung der Ereignisse, die damit ihre außenpolitische Erfahrung unterstreichen wollte, vier Pinocchios: für die Verdunkelung der Fakten, Weglassungen bzw. Übertreibungen, für Irrtümer und falsche Darstellung der Tatsachen und faustdicke Lügen. Hillary Clinton entschuldigte sich damit, dass sie sich versprochen, sie sich schlicht geirrt habe.
Die Anekdote ist im Vergleich zu den Täuschungen, Trugbildern und Vertuschungen amerikanischer Präsidenten und ihrer Regierungsangehörigen eine Bagatelle. Wie Eric Alterman in seinem Buch „When Presidents lie“ eindrucksvoll beschrieb, haben amerikanische Präsidenten nicht nur zu Notlügen, Lügen aus „Staatsräson“ gegriffen, sondern auch zu Lügen, um einen Nimbus zu schaffen und zu erhalten, der ihre Wiederwahlaussichten verbessern sollte. Ein Beispiel: John F. Kennedy und sein Bruder, der damalige US-Justizminister Robert Kennedy, haben den Abzug sowjetischer Raketen von Kuba nur im Tausch gegen den späteren Abzug von US-Jupiter-Raketen aus der Türkei erreicht , auch wenn diese militärisch fast wertlos gewesen sein sollen. Die Öffentlichkeit erfuhr von dieser geheimen Abrede zwischen Robert Kennedy und dem sowjetischen Botschafter in den USA Anatoli Dobrynin nichts. Nicht nur aus Rücksicht auf die Türkei. Der Mythos des mutigen, harten Präsidenten John. F. Kennedy sollte nicht zerstört werden. Schon zu Beginn der „Kuba-Krise“ hatte ein hochrangiger Mitarbeiter des amerikanischen Verteidigungsministerium, Arthur Sylvester, auf einer Pressekonferenz im Oktober 1962 wider besseres Wissen abgestritten, dass das Pentagon die Stationierung sowjetischer Offensivwaffen auf Kuba entdeckt hatte. Später begründete er seine Lüge mit dem Recht einer Regierung zu lügen, wenn sie sich damit rettet.
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