An dem Zustandekommen der Rettungspakete hatte Eurogruppenchef Jean-Claude Juncker, der spätere Kommissionspräsident, mitgewirkt. Hans-Olaf Henkel warf ihm in seinem Buch „Die Euro-Lügner“ vor, die Lüge salonfähig gemacht zu haben. Einen Blick in seine Trickkiste habe er schon 1999 gegeben. „Wir beschließen etwas, stellen das dann in den Raum und warten einige Zeit ab, was passiert. Wenn es dann kein großes Geschrei gibt und keine Aufstände, weil die meisten gar nicht begreifen, was da beschlossen wurde, dann machen wir weiter - Schritt für Schritt, bis es kein Zurück mehr gibt.“, hatte er dem Spiegel gesagt.
Einen Satz bereut Juncker bis heute zutiefst: „Wenn es ernst wird, muss man Lügen“. Dieser Satz hänge ihm in den Kleidern. Gesprochen hatte er ihn gegenüber Spiegel-online. Er hätte zehn Sekunden Zeit gehabt, auf eine Meldung von Spiegel-online über ein Geheimtreffen der Euro-Gruppe zu reagieren, erläuterte Juncker. Hätte er das Treffen zugegeben, hätte dies an den Finanzmärkten einen Tsunami ausgelöst. Deshalb habe er zu einer Notlüge gegriffen.
Lügen solle man nicht, aber alles sagen müsse und dürfe man auch nicht. Wenn eine Information vorzeitig bekannt werde, obwohl eine Entscheidung noch nicht getroffen sei, profitierten von diesem Wissen die Multimilliardäre und nicht kleinen Sparer.
Später habe er sich Interviews gegen den Eindruck wehren müssen, als ob er nichts anderes im Sinn gehabt hätte, als die Europäer systematisch zu belügen. Er habe nicht immer die volle Wahrheit gesagt, wenn er gewusst habe, dass die Mitteilung in dem Moment der vollen Wahrheit Schaden mit sich bringen würde.
Notlügen sind sicherlich anders zu beurteilen als vorsätzlich irreführende und täuschende Lügen. Die Grenzen zwischen beiden Lügenarten sind aber schwer zu bestimmen und fließend. Notlügen werden zudem leicht durchschaut. Den Finanzmärkten genügt schon ein Gerücht. Ein „No-Comment-Statement“ erstickt zwar kein Gerücht, aber die Empörung über eine offensichtliche Lüge.
Regierungspolitiker hatten besonders vor Wahlen und wegen des wachsenden Widerstands in der Unionsbundestagsfraktion gegen immer neue Rettungspakte für Griechenland den Eindruck erweckt, es werde kein drittes Rettungspaket für Griechenland geben. Aber als Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble im Bundestagwahlkampf durchblicken ließ, Griechenland benötige ein drittes Hilfsprogramm, nutzte dies Altkanzler Gerhard Schröder, um seiner Nachfolgerin vorzuwerfen, den Bürgern die Unwahrheit über die Kosten der europäischen Schuldenkrise zu sagen. „ Mit Vertuschen und Verschleiern gewinnt man kein Vertrauen des Volkes, sondern nur mit Klartext“, sagte Schröder laut Spiegel-Online. Er behauptete, es werde eine ganz große Lüge über die Kosten der Euro-Krise vorbereitet. Deutschland werde dafür zahlen müssen.
Als es dann nach einem abenteuerlichen Zickzackkurs voller Wortbrüche der griechischen Linksregierung und wochenlangen Verhandlungen in der zweiten August-Hälfte 2015 zu einem dritten Hilfspaket für Griechenland kam, stimmen in der Unionsfraktion 63 Abgeordnete dagegen, 3 enthielten sich und 17 nahmen an der Abstimmung gar nicht erst teil. Das dritte Rettungspaket umfasste Kredithilfen in Höhe von insgesamt 86 Milliarden Euro. Die Höhe des deutschen Haftungs-Risiko hing davon ab, ob sich der Internationale Währungsfondsbestimmen an dem dritten Hilfspaket beteiligen würde.
Alle Hilfspakete und Kredittranchen waren unter der Bedingung gegeben worden, dass die Regierungen des überschuldeten griechischen Staates ihre Reform- und Sparzusagen auch in die Tat umsetzen würden. Ein Sparpaket folgte dem anderen. Die Umsetzung geschah aber nur mit erheblicher Verzögerung, systematischer Verschleppung oder gar nicht - trotz der Überwachung durch die Gläubiger. Die Regierungen und Parlamente standen unter dem Druck permanenter Streiks und Demonstrationen einer reform- und sparunwilligen Bevölkerung. Die Spar- und Reformauflagen verlangten gerade den ärmeren Griechen existenzgefährdende Opfer ab, die viele verzweifeln und verelenden ließ. Verletzter Stolz, missachtete Würde, Empörung und Wut über die unter dem Druck der Gläubiger zustande gekommenen Sparauflagen prägten das gesellschaftliche Klima. Ein Teil der Medien fachte die explosive Stimmung immer wieder an.
Griechenland hatte sich nicht nur immer höher verschuldet, seit seine Zinsen mit dem Eurobeitritt gesunken waren. Staat und Bevölkerung hatten über ihre Verhältnisse gelebt- auf einem Wohlstandsniveau, das weit über die Wettbewerbsfähigkeit, die Leistungsfähigkeit ihrer Wirtschaft und die Produktivität der Arbeitnehmer hinausging. Hinzu kamen eklatante Mängel beim Vollzug staatlicher Aufgaben, bei der Bekämpfung der verbreiten Steuerhinterziehung, Vetternwirtschaft und Korruption. Aber wer wollte die unbequemen Wahrheiten hören, zumal die Konsequenzen so bitter waren? Und welche Politiker, die gewählt werden wollten, trauten sich, sie den Wählern zuzumuten? Wer die Frage „Wie viel Lüge verträgt die Politik?“ stellt, muss zugleich die Frage stellen „Wie viel Wahrheit verträgt der Wähler?“ Ein ganzes Volk hätte sich ändern müssen. Es hätte ein neues Staatsverständnis gewinnen müssen, von den Staatsaufgaben und den Bürgerpflichten. Dazu waren nur wenige Bürger bereit.
Die Wut über die als Diktate empfunden Spar- und Reformauflagen wusste Alexis Tsipras, der Vorsitzende der linkspopulistischen Syriza-Partei zu nutzen. Die Versprechungen, den Sparkurs zu beenden, den Mindestlohn wieder zu erhöhen, Renten- und Pensionskürzungen rückgängig zu machen, einen teilweisen Schuldenerlass durchzusetzen und ein von der EU zu finanzierendes Milliarden-Ausgabenprogramm zur Stimulierung der griechischen Wirtschaft zu erreichen, waren eigentlich unhaltbar. Sie machten ihn jedoch bei der Wahl im Januar 2015 zum neuen griechischen Regierungschef.
Einige Monate später, nach zermürbenden und die Gläubiger verärgernden Verhandlungen über die Freigabe der letzten Tranche des zweiten Rettungspaketes, die die Gläubiger an Reformauflagen gekoppelt hatten, kündigte er als vermeintlichen Joker in den überaus zähen Verhandlungen ein Referendum für den 5. Juli 2015 an.
In dem Referendum sollte über die von den Kreditgebern in ihrem Textentwurf gestellten Bedingungen für weitere Auszahlungen aus dem zweiten Hilfspaket abgestimmt werden. Er rief dazu auf, in dem Referendum die Reformvorschläge abzulehnen. Sie verletzten nach seiner Ansicht eindeutig europäische Regeln und ebenso das Recht auf Arbeit, Gleichheit und Würde. Er behauptete, dass das Ziel einiger Partner und Institutionen sei möglicherweise die Erniedrigung eines ganzen Volkes. Für den Pleitestaat Griechenland stand viel auf dem Spiel. Ein Ausscheiden des Landes, der „Grexit“ rückte näher. In dem Referendum lehnten die Wähler mit einer Mehrheit von 61,3 Prozent die Bedingungen der Gläubiger ab. Tausende Griechen bejubelten und feierten den vermeintlichen Sieg auf dem Athener Hauptplatz.
Tsipras erklärte in einer Fernsehansprache, Griechenland feiere einen Sieg der Demokratie. Das Nein werde die Verhandlungsposition der Griechen stärken und die Unterdrückung des griechischen Volkes beenden. Das war mehr als eine zweckoptimistische Fehleinschätzung, sondern eine bewusste Täuschung und eine Selbsttäuschung.
Weil immer mehr Kapital aus dem Land floh, wurden Kapitalverkehrskontrollen eingeführt. Banken und Börsen wurden eine Woche geschlossen. An den Geldautomaten bildeten sich lange Schlangen, Abhebungen wurden begrenzt. Die Zahlungsfähigkeit der Banken wurde nur durch Notfallkredite der EZB gesichert.
Um trotz der Ablehnung neuer Reform- und Sparvorschläge durch das Referendum ein neues Hilfspaket zu erhalten, einigte sich Tsipras am 12. Juli 2015 nach einer 17-stündigen Marathon-Sitzung mit der gesamten Eurogruppe in Brüssel wenig später auf Sparmaßnahmen. Diese kamen denen, die Tsipras und das griechische Volk zuvor abgelehnt hatten, sehr nahe. Am 15. Juli 2015 stimmte das griechische Parlament unter Zuhilfenahme der Opposition den Maßnahmen mehrheitlich zu. Der extrem linke Flügel spaltete sich von Syriza ab, bildete eine neue Partei, machte weiter Front gegen die Sparpolitik, warb für einen Austritt aus der Eurozone und die Rückkehr zur Drachme. Der Tsipras-Koalitionsregierung mit den Rechtspopulisten fehlte nach der Abspaltung eine eigene Mehrheit im Parlament.
Читать дальше