Von EDEKA aus sausen wir den Berg mit voller Geschwindigkeit wieder in die Tiefe zurück und suchen uns unseren Rhein-Radweg. Trotz des Regenschauers kurbeln wir flott bis Lingenfeld zum Bahnhof und suchen einen Zug nach Karlsruhe. Dort sind wir für heute Abend eingebucht. Der erste Zug soll erst in 2 ½ Stunden fahren. Weil es von Germersheim einen schnelleren Zug gibt, entschließen wir uns, bis dorthin zu radeln.
Während Klaus schon vor mir aufs Rad steigt und vom Bahnsteig hinunter radelt, steige ich auf, verhake mich mit meiner Fahrradhose am Sattel, komme aus dem Gleichgewicht und wäre um Haaresbreite links hinunter auf das Bahngleis gestürzt. Geistesgegenwärtig lasse ich mich mit Gewalt nach rechts fallen. Zum Glück kann ich mich auf diese Weise vor dem schrecklichen Sturz in die Tiefe retten und rufe Klaus. Während ich mich aufrappele, mein Fahrrad aufsammle und mir das Loch in meiner Fahrradhose am inneren Oberschenkel ansehe, erreicht er mich mit wachsbleichem Gesicht und weit aufgerissenen Augen, um mir zu helfen.
„Kläuschen, so leicht lasse ich mich nicht unterkriegen.“
Wir setzen unseren Weg nach Germersheim fort. Dort steigen wir in jenen Zug ein, in den wir schon in Lingenfeld hätten einsteigen können. Gedacht, gesagt, getan. Im Zug ziehen wir uns unsere Fahrkarten aus dem Automaten. Per Handy sage ich bei der Jugendherberge Bescheid, dass wir erst um 19.30 Uhr in Karlsruhe auf dem Bahnhof ankommen. Am Hauptbahnhof futtern wir als unser Abendessen ein großes, mit Käse belegtes Brötchen.
Eine Frau in einem Büchergeschäft zeigt mir, wie wir auf welchen Straßen ganz leicht zur Herberge finden. Das ist eine ganz tolle und übersichtliche Sache. Danach kommen wir ohne Schwierigkeiten vom Bahnhof aus zur Jugendherberge. Ein 14-jähriger Junge ist sehr an unserer Tour interessiert, lässt sich von mir viel erklären und meint, später will er das auch mal machen. Ich hoffe, wir sind für ihn ein gutes Vorbild.
Als ich uns damals hier von Kiel aus telefonisch anmeldete, wurde mir gleich gesagt, dass für uns kein Einzelzimmer frei sei. Wir würden jeweils in ein Männer- und Mädchenzimmer zu anderen gesteckt werden. Aber wir erhalten im II. Stock ein ganz großes Zimmer mit zwei übereinander stehenden Betten.
„Kläuschen, was für ein Glück, dass wir in der kommenden Nacht unsere geschundenen Knochen in diesem schönen Zimmer ausruhen können.“
Oben in unserem Zimmer angekommen, wechseln wir nur schnell die Schuhe und begeben uns bei Sonnenschein zum Schlosspark, der nur sieben Minuten Fußweg entfernt liegt. Mitten im Schlosspark zeigt mir Klaus das stilvolle und große Schloss Augustenburg. Es wurde im 12. Jahrhundert gegründet. Ende des 19. Jahrhunderts kam es in private Hände und wurde ein Baudenkmal. 1987 wurde es erfolgreich in ein Senioren- und Pflegeheim umgebaut.
Auf unserem Rückweg passieren wir wunderschön angelegte Blumenbeete der Orangerie. Ich bin begeistert. Mir kommt der Gedanke: Wenn ich hier wohnen würde, dann würde ich an jedem sonnigen und warmen Tag hierher gehen, mich auf eine der vielen Bänke setzen, um allein die Schönheit und den Duft der Blumen zu genießen.
Wir sind uns dessen bewusst, dass um 22.00 Uhr rundherum die Eingänge zum Park geschlossen werden und machen uns auf die Socken. Die Sonne ist schon untergegangen. Es wird langsam aber sicher dunkel. Es dauert lange, ehe wir einen offenen Ausgang finden. Und wir sind schon wieder hungrig. Bei einer Tankstelle kaufen wir uns zwei Tüten voller Salzstangen. Nach zwei Stunden Abwesenheit betreten wir wieder unser Zimmer. Karlsruhe ist eine ganz tolle Stadt!
Heute hat mein Enkelsohn Steffen, der kleine drollige Blondschopf, in Rudersberg Geburtstag. Draußen ist es wie immer: kühl und windig. Es regnet zwar nicht, hat es aber in der Nacht. Laut Wetterbericht aus dem Radio soll es heute wieder ordentlich „feucht“ und ab morgen besser werden. Wollen es hoffen.
Es ist echt die Oberhärte, hier aus Karlsruhe mit dem Rad gen Süden an den Rhein-Radweg zu kommen. Wir fahren erst von der Jugendherberge aus ganz und gar gen Westen. Dann hat sich Klaus in Richtung Rastatt eingefädelt. Auf einmal können wir keinen Fahrradweg mehr finden, sondern nur noch das blaue Schild mit dem weißen Auto darauf, was bedeutete: nicht für Fahrradfahrer. Dann fädelt er uns durch die Rhein-Auen bis zu einem Schwimmbad in der Nähe des Rheins. Plötzlich befinden wir uns oben auf dem Deich auf dem Rhein-Radweg . Der ist aber natürlich nicht befestigt. Es regnet wieder. Ein weiteres Ehepaar auf Fahrradtour schließt sich uns an. Und als wir das Schild ‚für Fahrradfahrer links nach Forchheim’ ausmachen, biegen wir dorthin ab. Das Ehepaar setzt seine Tour auf dem nassen Schotterweg fort. Klaus hat uns auf diese Weise auf Teerwegen durch die Rhein-Auen weiter gen Süden geführt. Auf diesem Weg erreichen wir bald Illingen und möchten weiter nach Neuburgweiher.
Während wir diesen kleinen Ort verlassen und eine kleine Straße überqueren, steht rechterhand eine Frau und bittet uns um Hilfe. Ihr Hosenbein hat sich zwischen Fahrradkette und Zahnkranz verfangen. Sie kann sich beim besten Willen nicht mehr allein daraus befreien und wäre sonst umgestürzt. Mit vereinter Kraft helfen wir ihr. Sie bedankt sich und fragt: „Wohin fahren sie?“
„Nach Spanien.“
„Ah, dann habe ich etwas für sie!“ Mit einem ganz glücklichen Gesicht holt sie aus einer ihrer Jackentaschen das Johannes-Evangelium hervor und reicht es mir.
„Oh, das passt ja ausgezeichnet!“ Mit einem herzlichen Dankeschön verabschieden wir uns gegenseitig. Während sie in den Ort radelt, setzen wir unseren Weg fort.
„Kläuschen, das werde ich durchlesen und mir zu Herzen nehmen.“
In Illingen - in der Nähe des Rheins – angekommen, fängt es wieder an zu regnen. Wir trocknen also nicht aus, unsere ganze Landschaft auch nicht. Wir müssen das wohl oder übel überstehen. Vor mir sehe ich oben am Himmel schon ein wenig blauen Himmel zwischen den Wolken und hoffe, gegen Abend wieder trockenes Wetter zu bekommen. Eigentlich haben wir hier ein typisch norddeutsches Wetter: immer feucht, kühl und windig, leider aber hier nur mit Gegenwind. Der ist sicher extra für Fahrradfahrer!
In Wintersdorf suchen wir Schutz in einem Buswartehäuschen. Bei unserem Start gießt es erneut. Aber wir müssen weiter. Klaus führt uns sicher durch die Landschaft, übersieht kein Schild auf dem gut ausgeschilderten Weg. Wir erreichen den Ort Rheinau. Dort wissen wir nicht mehr, wie wir weiterkommen können. Am liebsten möchten wir an die Bundesstraße (36), wissen aber nicht, ob sich an dieser Straße ein Fahrradweg befindet oder nicht. Weil wir uns aber nicht in den Rhein-Auen verfransen wollen, sind wir in den Ort Iffelsheim zurückgefahren. Vor einem Geschäft frage ich einen Mann: „Kennen sie sich hier aus? Und wie kommen wir von hier zur (36)? Und gibt es daran einen Fahrradweg?“
Er erklärt uns den Weg. Umständlich erreichen wir Reinau. Von hier aus können wir wieder auf einem ausgeschilderten Weg für Fahrradfahrer fahren und erreichen zufällig eine ganz niegel-nagel-neue vierspurige Straße, die östlich des Rheins nach Süden bis Kehl führt. Es gießt immer mehr. Und der Wind bläst uns von vorn entgegen. Es bringt keinen Spaß. Bei solchen Widrigkeiten schalte ich einfach mein Gefühlsleben ab und fahre stur wie eine Maschine weiter. Nur so kann ich das überleben. Das ist auf allen meinen großen Fahrten meine Überlebensstrategie.
Noch weit vor Kehl passieren wir ein rechts stehendes Haus, vor dem mehrere Autos parken. Ich schlage meinem Klaus vor: „Ich gehe hinein und frage, ob wir hier schlafen können.“
„Aber nein. Wir sind in Kehl eingemietet. Also fahren wir weiter.“
Er ist hart gegen sich selbst und gegen andere. Aber ich weiß, dass dieses Wetter Gift für seine Lunge, Stirnhöhle und die Nasennebenhöhlen ist und mache mir um seine Gesundheit große Sorgen. Aber er möchte weiter, so, wie sich das für einen Wanderführer auf großer Fahrt gehört. Und ich muss mit.
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