In der Gerichtsverhandlung Anfang November, in der die Eltern als Nebenkläger auftraten, bestritt der Anwalt des Angeklagten alles.
Ein Beamter der Abteilung Datenbank sagte aus, dass der Computer auf Grund der Informationen einen Abgleich gemacht und es sich um den Privatwagen des Ministers gehandelt haben könnte.
Als der ganze Unfall noch einmal in allen Einzelheiten rekonstruiert wurde, weinte die Mutter leise, und der Vater hatte Tränen in den Augen. Die Eltern der kleinen Annabell trugen schwarz. Edmund Henrich war Angestellter in einem Fuhrunternehmen, sie war Hausfrau.
Dann sagten zwei Zeugen unter Eid aus, dass Heiner Praun an diesem Tag und zu dieser Stunde in seinem Büro saß und demzufolge an dem Unfall nicht beteiligt gewesen sein konnte. Sie hießen Thorsten Glauburg und Reinhard Kammer.
Der alte Mann als Zeuge sagte aus, dass er sich Teile des Kennzeichens gemerkt und das Gesicht des Fahrers gesehen hatte: ein großer, weißer Mercedes, der Fahrer habe weißes kurzes Haar gehabt und trug eine randlose Brille.
Schließlich habe ihn später ein Mann im Heim besucht und aufgefordert, seine Aussage gegen Geld zu widerrufen. Dieser Mann nannte sich Johann Liedmann.
Der Zeuge Ludwig Very wurde von dem Anwalt in die Mangel genommen und als obdachloser Penner unglaubwürdig hingestellt, ihm wurde nach suggestiver Befragung vorgehalten, so viel Alkohol getrunken zu haben, dass er nicht in der Lage gewesen sein kann, Teile des Kennzeichens und das Gesicht einwandfrei erkennen zu können. Er müsse die Zahlen und Buchstaben durcheinander gebracht haben.
Und der von ihm behauptete Bestechungsversuch sei reine Fantasie. Einen Johann Liedmann gäbe es gar nicht.
Der Staatsanwalt hielt sich sehr bedeckt und erhob keinerlei Einwände gegen diese offensichtlich suggestive und aggressive Vernehmung.
Dann versuchte der Anwalt, Jana fertigzumachen, indem er behauptete, dass sie sehr wahrscheinlich zu schnell gefahren sei und das Mädchen angefahren, und infolgedessen Schuld am Tod des kleinen Kindes habe.
Jana sprang auf und schrie den Anwalt an, es sei eine Unverschämtheit, die Tatsachen einfach zu verdrehen. Auch Lars war aufgesprungen: „Eine Frechheit ist das!“
Sie wurden vom Richter ermahnt.
Heiner Praun wurde nach kurzer Beratung im Richterzimmer mangels Beweise freigesprochen.
Jana war wie gelähmt, als sie das Urteil vernahm.
Sie gingen aus dem Gerichtsgebäude. Vor ihnen liefen die Eltern der kleinen Annabell. Sie hatten ihre Köpfe gesenkt. Jana holte sie ein und versicherte ihnen: „Ich werde das nicht gelten lassen.“ Edmund Henrich blieb kurz stehen: „Vergessen Sie`s, aber trotzdem vielen Dank.“
Der Kloß in ihrem Hals wurde immer größer, die Verzweiflung dieser Eltern wurde plötzlich zu ihrer eigenen Verzweiflung.
Dann gingen sie in ein Cafe und unterhielten sich über den Fall.
„Das war es schon,“ sagte sie. „Und jetzt gehen alle wieder zur Tagesordnung über, das Mädchen ist tot, die Eltern sind für ihr restliches Leben verzweifelt, und der Minister genießt diesen sonnigen Tag als freier Bürger.“
„Wie sollte wohl der Richter entscheiden, wenn zwei Zeugen unter Eid aussagen, dass der Minister in seinem Büro saß, wenn nur ein Zeuge behauptet, dass er der Fahrer war? Und dieser Zeuge auch noch ein Obdachloser ist?“ erläuterte Oliver.
„Aber er hat ihn gesehen, weißes, kurzes Haar, eine randlose Brille…ob Penner oder nicht, und er hat Teile des Kennzeichens gesehen, und der Computer hat daraufhin kombiniert, dass es Prauns Wagen war,“ sagte Jana.
„ Vorsicht…gehandelt haben könnte! Vielleicht hat den Wagen ein Bekannter gefahren, der so aussieht wie der Minister,“ gab Oliver zu bedenken.
„Das glauben Sie doch selber nicht…“ Jana wurde zornig. Lars schaute sie an: „Jana, bitte!“
„Seltsam ist natürlich, dass man den Zeugen bestechen wollte,“ gab Oliver zu.
„ Na also…“ sagte sie. Oliver setzte seine Kaffeetasse ab. „Klar ist, dass es für die Partei verdammt schlecht aussieht, wenn ihr Parteimitglied und Minister Praun verurteilt werden sollte. In ein paar Wochen stehen die Landtagswahlen an.“
Alle drei schwiegen. Jana stocherte mit dem Löffel in ihrer Kaffeetasse, Oliver umklammerte mit beiden Händen sein Glas, und Lars beobachtete die anderen Gäste im Lokal.
„ Ich komme mit dieser Ungerechtigkeit nicht klar, ich kann sie nicht akzeptieren, ich will sie nicht akzeptieren. Hier ein totes Kind, leidende Eltern und da ein Schuldiger, der nicht bestraft wird.“
Keiner kommentierte sie. Oliver nickte.
„Ich muss etwas unternehmen. Etwas, was die Leute aufrüttelt.“
Oliver beobachtete sie. Sie gefiel ihm. Er spürte ihren Zorn gegen diese unglaubliche, formale Ungerechtigkeit. Und er spürte seinen eigenen Zorn.
Gedanken kreisten in seinem Kopf, auch er kämpfte für diejenigen, die selbst keine Kraft mehr hatten. Er dachte an die Eltern, ihr Leiden und ihre Trauer. Und ihm wurde seine Erkenntnis wieder bewusst: es gibt den inneren großen Zusammenhang. Eins greift ins Andere über. Man ist sich dessen oftmals nicht bewusst, wie die unsichtbaren Fäden unser Schicksal bestimmen. Und deshalb hatte er eine Vorahnung, was Jana betraf.
„Ich kann mir vorstellen, dass eine Tageszeitung ein Interview mit mir macht, und ich den Verdacht äußere, dass im Büro des Politikers etwas oberfaul ist.“
Sie schaute Oliver an.
Oliver nickte. „Nicht schlecht, der Gedanke. Wäre zwar rechtlich gesehen eine Verleumdung, weil wir es nicht beweisen können und der Typ freigesprochen wurde, aber für die Publicity ist es gut.“
„Ich bekäme also eine Anzeige wegen Verleumdung.“
„Sehr wahrscheinlich.“
„ Ist mir egal, wenn es der Gerechtigkeit dient,“ bekräftigte Jana ihr Vorhaben. „Wäre es also machbar? Sie glauben auch, dass es der Minister war?“
Oliver sah ihr in die Augen. „Ich neige dazu. Warum, kann ich nicht sagen, aber vieles spricht dafür.“
„So eine Art Intuition?“
„Ja, würde ich sagen.“
Lars schaute seine Frau misstrauisch an. „Jana… du kriegst gewaltigen Ärger mit der Behörde.“
Irgendwie schien sich etwas zu wiederholen. Ein verdrängter, schrecklicher Gedanke schoss ihr ins Gedächtnis. Es war das Fragment einer Szene. „Als ich zwölf Jahre alt war, verunglückte mein fünfjähriger Bruder tödlich. Er wurde von einem Motorrad überfahren, der Fahrer verschwand spurlos. Es ist, als ob ich ein zweites Mal so was erleben muss. Damals wurde der Fahrer überhaupt nicht erwischt, aber diesmal….“ Ihre Augen wurden feucht.
Lars machte eine Bemerkung, die Oliver im Ton zum Kotzen fand. Ihr Mann sagte lapidar, sie solle diese alten Dinge nicht immer wieder aufwärmen.
Olivers Schweigen war Anteilnahme an ihren Gefühlen.
„Ich kenne jemanden bei der Tageszeitung, der würde sich bereit erklären, ein solches Interview mit Ihnen zu machen,“ sagte er.
Jana schaute ihm in die Augen. „Sie sind auch ein Mensch, der solche gravierende Ungerechtigkeiten nicht ertragen kann, ja?“
Oliver nickte.
Lars schaltete sich wieder ein. „Wäre das nicht die Sache der Eltern? Ihr Kind ist getötet worden.“
„Schau sie dir doch an, Lars, die sind am Boden zerstört, die haben keine Kraft, so was durchzuziehen.“ Sie spürte keine Lust mehr an dieser Unterhaltung, weil Lars wie ein Fremdkörper wirkte. Am liebsten würde sie sich mit Oliver alleine unterhalten.
Sie zahlte und sagte zu Oliver. „Ich rufe Sie an, okay?“
„Meine Nummer haben Sie. Aber warten Sie nicht zu lange, es muss schnellstens gemacht werden.“ Lars warf ihm einen kurzen feindseligen Blick zu.
Jana spürte, dass dieser Anwalt dieselben Gefühle hatte wie sie. Dass er gegen schwerwiegende Ungerechtigkeit war. Und dass er bereit war, etwas dagegen zu tun.
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