Soll heißen: bis zu einem
Frühlingsdienstag
mitten drin in unserer Zeit.
Ein Nachbar hatte es gemeldet:
Raúl, Mariana sind schädlich für das Land
Und folgerichtig
vier Wagen ohne Nummernschild
und Uniformen ohne Gesicht
verhaften Raúl
verhaften Mariana
Die Kinder
eine Großmutter
und ein unbekannter Viehtreiber
bezeugen die Verhaftung
gehen zum Richter
Der Richter aber
wusste nichts von Raúl, nichts von Mariana
nichts von Verhaftungen
nichts von Wagen ohne Nummernschild
nichts vom Militär
Man stellte fest:
es gab keine Verhaftung
und es gab Raúl nicht
und es gab Mariana nicht
nur eben ein faselndes Weib
mit Zahnlücken und einer Krücke
drei flennende Gören
und den üblichen
verschüchterten Viehtreiber
sagte der Richter
sagte die Polizei
sagte deine und meine Zeitung
Zugegeben: von Raúl und Mariana
besitze ich nicht viel mehr
als einen sachlichen und ausgewogenen
Bericht
so wie das Sitte ist in meinem Land
eine kleine Zeitungsmeldung
und einem Foto
auf diesem Foto sind drei alberne Kinder
und Mariana und Raúl
das heißt: es muss sie also doch
gegeben haben.
Im nächsten Sommer
kommen plötzlich Leute an die sagen
man hätte Raúl gesehen
in einem Krankenhaus des Militärs
vielmehr man hätte
eine verquollene Visage gesehen
und einen aufgedunsenen Unterleib
zwei halb zerquetschte Hände
die schreiben mühsam auf einen Zettel
ich heiße Raúl
benachrichtigt Mariana
das heißt wenn ihr sie findet
sagt ihr, dass ich noch lebe
sagt ihr, dass ich sie liebe
Im Herbst
kommen die Leute noch einmal an und
sagen man hätte nun auch Mariana gesehen
mit geschorenem Kopf
und zerrissenem Kleid
schreibt sie auf einen Zettel
ich heiße Mariana benachrichtigt Raúl
das heißt wenn ihr ihn findet
sagt ihm, dass ich durchhalten werde
sagt ihm, dass wir uns
wiedersehen werden
und zwar ganz bestimmt
Versteht sich
wie das immer ist:
diese Zettel kamen natürlich nie an
auf tausend Umwegen kommen sie
stattdessen zusammen in einem Ordner
der auf meinem Schreibtisch steht
und den Namen von Mariana trägt
und den Namen von Raúl trägt
und das Datum eines Frühlingsdienstags
und zwei Nummern
zwanzigtausendvierhundertvierundfünfzig
zwanzigtausendvierhundertfünfundfünfzig
Nun besitze ich schon mehr:
den noch immer sehr sachlichen
und sehr ausgewogenen Bericht
die kleine Zeitungsmeldung
das Foto
und diese beiden Zettel
die nicht mehr richtig angekommen sind
der eine übrigens von Zigarettenpapier
der andere von einem Fetzen
schmutzigem Karton
Im Winter
erhalte ich einen Brief
in dem steht
dass Raúl gestorben ist
an einem Leberriss
von einem Militärstiefel
sagen die Leute
er starb im Herbst
ziemlich genau als Mariana ihm versprach
dass sie ihn wiedersehen wird
und zwar ganz bestimmt
Und heute morgen endlich
bevor ich diese Zeilen schrieb
hatte ich noch einen Brief bekommen
in dem stand
dass man die nackte Leiche einer Frau
im Straßengraben fand
an der schon fast gewohnten Straße
von Buenos Aires nach Ezeiza
zwei Dinge hatte die Frau noch am Leib
auf ihrem Oberschenkel
eingebrannt ein Wort
Demokratenhure
und um den Finger einen Ring
der so fest saß
dass nicht einmal das Militär
ihn stehlen konnte.
Irgend jemand kam daher
machte ein Foto davon:
aus einem Luftpostbriefumschlag
mit Heldenmarken drauf und einem
unverrutschten Stempel
fällt mir ein Foto entgegen
von einem Ring aus einfachem Gold
und gerade mit der Lupe noch
zu lesen eine Schrift
26. März in Liebe
für Mariana
von Raúl
das heißt
es muss sie also doch gegeben haben.
Nachtrag
Diesen Ordner übrigens mit
dem bis zuletzt sachlich gebliebenen Bericht
mit der kleinen Zeitungsmeldung
mit den beiden Zetteln
aus Zigarettenpapier und aus Karton
und einigen inzwischen überflüssig
gewordenen Briefen
schickte ich an die Kinder.
Etwas anderes
gab es nicht mehr zu tun.
Zwei Dinge aber
habe ich behalten:
das Foto eines aufgeschnittenen Hochzeitsringes
und das mit drei albernen Kindern
und Mariana
und Raúl
Damit außer den amtlich
niemals identifizierten Leichen
noch etwas übrig bleibt
ein Beweis
von Raúl, von Mariana, verheiratet
drei Kinder, wohnhaft ehemals
auf einer kleinen Farm
tief drin und irgendwo im Land
Und ein Beweis von denen
die einmal Antwort geben müssen
auf die Frage
wo sie denn waren
als wir sie dringend brauchten.
Vielleicht, vielleicht ist die Trauer
eine frierende Blüte die in sich
schon die Ahnung neuen Lebens birgt.
Vielleicht.
Vielleicht ist der Schmerz ein drängender
Samen, ein Bote, der nach Veränderung ruft
oder ein brüchiger Stein in der Mauer.
Vielleicht.
Vielleicht sind die Mitleidenden
wie wachsame Tiere,
die das nahende Unheil spüren
und die Gefahr für die eigene Haut.
Vielleicht.
Den Klagenden aber ist nicht zu trauen
und nicht den Schmerzerfüllten
nicht den Mitleidigen.
Der Gang der Gebeugten führt nirgendwohin.
Nutzlos ist die Trauer ohne den Zorn, ohne
den Willen, nie wieder beiseite zu stehen
und ohne die Waffen der hellen
ungeduldigen Vernunft.
Vielleicht, vielleicht ist die Trauer
eine frierende Blüte, ein brüchiger Stein
ein wachsames Tier.
Vielleicht.
Gesenkte Köpfe aber
verhindern den aufrechten Gang.
Weder der Krieg
noch der internationale Rüstungshandel
weder der Staatsterrorismus
noch der Faschismus
weder die Millionen
eines arabischen Monarchen
noch der Generalstab
einer südamerikanischen Armee
weder der Warschauer Pakt
noch die islamische Inquisition
weder die Unterentwicklung
noch die Moon-Sekte
weder die Glacé-Handschuh-Diplomaten
noch die Central Intelligence Agency
weder die Parteifunktionäre
noch die systematische Folter
weder die Präpotenz des Weißen Mannes
noch die schmutzigen Geschäfte
des Vatikans
weder die zionistischen Besatzer
noch die palästinensischen Raketenwerfer
weder die Drogendealer
noch der Rassismus
weder die Todesstrafe
noch sonst irgendeines
der Übel des 20. Jahrhunderts
hat größeren Schaden angerichtet als
die Gleichgültigkeit
des kleinen Mannes auf der Straße.
Drei Kugeln trafen ihn.
Die eine vom Schlächter.
Die zweite vom Vergessen.
Die dritte vom Schweigen.
Der Tag ist voller Liebe
offen wie ein Kuss.
Der Tag verstreicht und stirbt
offen wie ein Kuss.
Ein Mensch zeigt sein Gesicht und fällt
offen wie ein Kuss.
Die Erde fängt ihn im Tode auf.
Es gibt andere
die so wie er
aufbegehren werden.
Die Vögel liefern sich nicht aus
Niemals wird man
den Vogel finden
der freiwillig den Himmel aufgibt
und sich ungeschützt
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