»Nein, er ist sehr nett und liebenswürdig«, verteidigte sie ihn. »Und er hat durchaus keine übertriebenen Ansichten.«
Henry betrachtete sie nachdenklich und strich seinen Schnurrbart.
»Das kann ich eigentlich auch bestätigen. Der Wetter ist zwar exzentrisch, und seine Methoden sind nach Ansicht der Behörden etwas ungewöhnlich. Aber er hält sich streng an gegebene Tatsachen.«
»Wer ist er eigentlich?« fragte Miß Revelstoke, und Nora hörte zum erstenmal von Arnold Longs Wohlhabenheit.
»Eines Tages wird er Baronet und erbt ein Vermögen von zwei Millionen«, entgegnete Henry. »Deshalb ist er ja auch bei seinen Kollegen in Scotland Yard so unbeliebt.«
Miß Revelstoke hatte ausgedehnten Grundbesitz in London, und nach dem Essen ging Henry mit ihr in das kleine Büro, das hinter dem Wohnzimmer lag, um verschiedene Angelegenheiten mit ihr zu besprechen.
»Das wird ja wieder ein interessanter Abend«, flüsterte er Nora halblaut zu, als er mit seiner großen Mappe an ihr vorbeiging.
Sie lächelte mitleidig. Miß Revelstoke war eine tüchtige Geschäftsfrau, und der Rechtsanwalt würde keinen leichten Stand haben.
Die Bande des Schreckens« war nur ein Name, eine ungewisse Bezeichnung für allerhand Verbrecher und schemenhafte Gestalten, die man nicht fassen konnte. Colonel Macfarlane machte ein ärgerliches Gesicht, als Long an diesem Abend zu ihm kam und wieder über sein Lieblingsthema zu sprechen begann.
»Immer wieder diese Bande des Schreckens! Sie machen mich noch ganz krank mit Ihren Geschichten. Wenn Sie mir wenigstens sagen wollten, wer diese Leute sind! Aber Sie wissen doch tatsächlich nichts von ihnen!«
»Ich nenne sie so, und ich habe recht mit meiner Behauptung, wenn ich auch nichts Näheres über sie weiß«, entgegnete der Wetter vertrauensvoll. »Man kann sie nicht Sheltons Bande nennen, denn er arbeitete niemals mit anderen Leuten zusammen, soweit wir wissen. Einen Eid will ich allerdings darauf nicht leisten. Er hat sich doch nur sehr selten in der Öffentlichkeit gezeigt, vielleicht fünf Tage im Jahr. Was er an den anderen dreihundertsechzig Tagen getrieben hat, können wir nur vermuten. Er hatte Hunderte von Agenten und Helfershelfern, aber sie waren nur Handlanger, die eine bestimmte Aufgabe zu lösen hatten und dafür bezahlt wurden. Diese kleinen Leute haben nicht den Richter, den Staatsanwalt und den Henker umgebracht. Sie haben auch nichts gegen mich unternommen. Wie erklären Sie sich denn diese drei plötzlichen Todesfälle?«
»Es waren Unglücksfälle«, erwiderte der Colonel mißmutig.
»War es tatsächlich auch ein Unglücksfall, daß Ulanen-Harry auf mich geschossen hat und die Tat mit dem Leben bezahlen mußte?«
»Harry konnte Sie nicht leiden und wollte Sie eben aus dem Weg schaffen. Und als ihm das nicht gelang, hat er Selbstmord begangen.«
Der Wetter warf unwillkürlich den Kopf in den Nacken.
In Scotland Yard hatte man seine Theorie über die Bande des Schreckens äußerst skeptisch aufgenommen. Die Bezeichnung wurde zwar in den Akten erwähnt, aber im allgemeinen glaubte man, daß diese Leute nur in Arnold Longs Einbildung existierten.
Und doch sprachen gewisse Anzeichen für seine Ansicht.
Der ältere Bruder Mr. Monkfords war tot aufgefunden worden; der Richter, der Shelton verurteilt hatte, der Staatsanwalt und der Henker waren auf geheimnisvolle Weise ermordet worden. Die breite Öffentlichkeit wußte nichts von den seltsamen Vorgängen, die sich abgespielt hatten und sah in dem Ableben der Beamten nur natürliche Ereignisse. Der Tod des Henkers Wallis hatte allerdings einige Sensation hervorgerufen, aber niemand dachte an einen Racheakt.
Macfarlane strich seinen grauen Schnurrbart und runzelte die Stirne. Schon zum dritten Mal in dieser Woche erwähnte der Wetter das Schicksal dieser drei Leute, die in gewisser Weise für Clay Sheltons Tod verantwortlich waren.
»Ich will die Möglichkeit, daß Sie recht haben, nicht ganz und gar bestreiten«, sagte er schließlich. »Wenn Joshua Monkford wirklich ermordet wird, sind alle meine Zweifel beseitigt.«
Long sah ihn vorwurfsvoll an.
»Sie wollen doch nicht etwa sagen, daß Monkford erst sterben muß, um Scotland Yard von der Existenz der Bande des Schreckens zu überzeugen?«
Derartige Bemerkungen machten den Wetter so unbeliebt bei seinen Vorgesetzten.
»Natürlich nicht«, erwiderte der Colonel kurz. »Es ist doch Ihre Aufgabe, ihn zu schützen. Hoffentlich haben Sie alle Vorsichtsmaßregeln getroffen.«
»Ich habe zwei Beamte in Marlow stationiert. Die beiden Privatdetektive von der Bankiervereinigung sind auch dort. Aber die Gefahr liegt nicht in Marlow.«
»Wo denn?«
»In Little Heartsease. Das ist ein luxuriöses, komfortables Hotel. Ein gewisser Cravel ist der Eigentümer.«
Der Colonel kannte den Namen.
»Wird dort nicht auch jedes Jahr ein Golfturnier ausgetragen?«
»Ja, das vornehmste und bekannteste von ganz England. Was Ascot für die Rennen ist, das ist Heartsease für das Golfspiel. Monkford versteht nicht mehr davon wie hundert andere Menschen. Die meisten Leute kommen nur hin, weil es ein gesellschaftliches Ereignis ist. Aber in Heartsease wartet eine große Gefahr auf Monkford. Ich kann es Ihnen nicht genauer erklären, weil es nur eine innere Überzeugung ist. Aber solche Vorahnungen sind wichtiger als genaue Kenntnisse.«
Colonel Macfarlane sah einige Zeit vor sich hin.
»Etwas ist mir an Clay Shelton aufgefallen – ich weiß nicht, ob Sie schon darüber nachgedacht haben.«
»Was ist es denn?«
»Er hat niemals Ihren Vater betrogen.«
Long starrte ihn erstaunt an.
»Ja, da haben Sie recht. Das hat er nicht getan.«
Sein Vater war der Direktor der größten Privatbank in der City und hielt streng an alten Geschäftsprinzipien fest. Seine Bank zu berauben, wäre ein großes Kunststück gewesen.
»Es ist wirklich sonderbar«, meinte der Wetter nachdenklich.
Arnold Long verließ nach dieser Unterredung Scotland Yard und fuhr nach Berkeley Square. Im letzten Jahr hatte er seinen Vater kaum zwölfmal besucht. Sir Godley las gerade die Druckkorrektur eines Buches über Kunstgeschichte, das er selbst verfaßt hatte. Er nahm die Brille ab und sah Arnold interessiert an.
»Kommst du als Beamter oder als mein Sohn?«
»In keiner der beiden Eigenschaften. Bist du eigentlich Mitglied der Bankiervereinigung?« fragte er etwas abrupt, als er sich einen Stuhl an den Schreibtisch zog.
»Warum willst du das wissen?«
»Beantworte, bitte, meine Frage«, sagte der Wetter ernst.
»Die Bank ist natürlich Mitglied der Vereinigung, aber ich habe keine offizielle Stellung darin. Welton vertritt uns immer bei den Versammlungen. Ich könnte es nicht aushalten, mit Monkford dauernd in Sitzungen zusammenzusein. Er spricht mir zu viel.«
»Hast du jemals etwas von der Bande des Schreckens gehört?«
»Meinst du etwa die Bande, über die du selbst in der Zeitung geschrieben hast?«
Der Wetter nickte.
»Nein, von der habe ich noch nicht gehört. Shelton kenne ich natürlich dem Namen nach, aber er hat niemals einen Penny von meiner Bank bekommen. Glaubst du wirklich, daß Monkford in Gefahr ist?«
»Sein Schicksal ist besiegelt«, entgegnete Arnold so entschieden, daß der alte Herr erstaunt aufsah. »Willst du ganz offen mit mir reden?«
»Soweit es möglich ist.«
»Warum hat Clay Shelton niemals versucht, deine Bank zu berauben?«
»Das weiß ich nicht.« Die Worte Sir Godleys klangen nicht sehr sicher. »Ich glaube, unsere Bank war nicht groß genug für ihn.« Er wechselte das Thema plötzlich. »Arnold, wenn du tatsächlich von der Gefährlichkeit der Bande des Schreckens überzeugt bist, warum verläßt du dann nicht den Polizeidienst? Es gibt doch wahrhaftig keinen Grund, warum du noch länger in Scotland Yard tätig sein solltest. Ich könnte dir einen guten Posten in unserer Bank anbieten.«
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