Nun wollte er warten, bis das Schlafmittel bei dem Mädchen wirkte. Nach fünfzehn Minuten schaute er im Schuppen nach.
Sie lag auf einem Torfballen und schlief. Er deckte sie mit einer Gärtnerschürze, die innen an der Tür hing, zu und schloss die Tür. Dann ging er durch die Terrassentür ins Haus. Frau Werbusch lag noch schlafend auf dem Sofa. Er nahm ihren Arm, hob ihn an und ließ ihn los, worauf er runterfiel.
Tiefschlaf!
Nun war es an der Zeit, den Richter anzurufen.
Der Anruf im Büro des Richters kam kurz vor der Kaffeepause. Nach einem langen Prozesstag, an dessen Ende der Richter einen Freispruch für einen wohlhabenden Aristokraten, der seine Frau misshandelt hatte, erwirkte, hatte Martin Werbusch gerade eine Akte beiseitegelegt und war im Begriff, seine Jacke anzuziehen. Zwar waren die Spuren der körperlichen Misshandlung der Frau von dem Notarzt bestätigt und von einem Fotografen auf Fotos festgehalten worden, allerdings konnte die Ehefrau keinen Beweis liefern, dass es ihr Mann gewesen war, von dem sie die Verletzungen hatte. Als dieser beiläufig erwähnte, dass er nicht wisse, wo sich seine Frau nächtelang herumtreibe und er aus diesem Grunde gezwungen sei, sich Erfüllung in einem Bordell zu holen, wo er auch zur fraglichen Zeit gewesen sei, war das Argument für einen Freispruch geliefert. Diesen konnte der Richter dann, ohne Gewissensbisse zu haben, aussprechen. Die Frau brach noch im Gerichtssaal mit einem Weinkrampf zusammen, was den Richter nicht im Geringsten beeinfl usste.
Werbusch schaute missmutig auf seine Rolex, als das Telefon klingelte. Er hatte sich mit einer jungen, sehr attraktiven Rechtsanwältin in einem nahegelegenen Cafe verabredet. Er hatte sie vor kurzem bei einem Gerichtstermin kennengelernt und sich mit ihr auf ein frivoles Zwiegespräch in der Verhandlungspause eingelassen. Diese Beziehung wollte er ausbauen. Sein Werturteil bezog sich in diesem Fall auf das, wie er es nannte, rassige Fahrgestell und das gut gefüllte Oberteil der Dame. Sein Verlangen auf ein näheres Kennenlernen mit intimem Ausgang wurde auch von ihr befürwortet. Sie hatte ihm Hoffnung gemacht. Seine Gedanken drehten sich schon um die Frage, ob er sich nicht sofort mit ihr in dem kleinen Hotel verabreden sollte, in dem er schon des Öfteren mit Frauen die späten Nachmittage verbrachte.
Nun aber befürchtete er, dass sie in letzter Minute telefonisch absagen könnte. Sollte er noch ans Telefon gehen? Eigentlich war er schon weg.
Seine Neugierde siegte. Er hob den Hörer ab.
»Werbusch?«
Es klang ärgerlich und neugierig.
Kowalski machte sich nicht die Mühe, seine Stimme zu verstellen.
»Hören Sie zu! Ich sag es nur einmal. Ich habe Ihre Tochter entführt. Kommen Sie sofort nach Hause! Keine Polizei! Wenn ich hier Polizei sehe, stirbt die Kleine! Wenn Sie nicht sofort kommen, stirbt die Kleine! Wenn Sie auf meine Forderungen eingehen, wird ihr nichts geschehen. Ich weiß, dass Sie Ihre Tochter über alles lieben. Sie werden kommen! Sofort! Beeilen Sie sich!«
Kowalski legte, ohne eine Antwort abzuwarten, auf.
Der Richter musste sich setzen. Seine Beine waren plötzlich wie Pudding.
Was war das? Eine Entführung? Der Entführer seiner Tochter wartete auf ihn in seiner eigenen Wohnung? Warum? Das war einmalig in einem Entführungsfall.
War das ein Scherz? Wenn nicht, was wollte er? Sicher Geld! Aber so dilettantisch? Ein Anfänger? Gefährlich? Anfänger können gefährlich sein. Er wollte Gewissheit. Er musste seine Frau anrufen. Aber wenn er nach Hause kommen sollte und dort anrief, bekam der Entführer, wenn es ihn wirklich gab, dies ja mit.
Egal – er musste es versuchen. Er wählte seine Telefonnummer.
Kowalski ließ es dreimal klingeln und hob dann den Hörer ab. Er spürte, dass am anderen Ende der Leitung ein Fisch an der Angel hing.
Ohne den Richter zu Wort kommen zu lassen, warnte er ihn.
»Es ist kein Scherz. Kommen Sie sofort. Allein!«
Der Richter war leichenblass im Gesicht.
»Was ist mit meiner Tochter? Geht es ihr gut?«
»Ja. Noch. Aber sie stirbt, wenn Sie sich nicht beeilen. Übrigens, wollen Sie nicht wissen, wie es Ihrer Frau geht?«
»Doch. Natürlich. Was ist mit ihr?«
»Sie schläft.«
Damit unterbrach er die Verbindung. Martin Werbusch versuchte, professionell an die Sache heranzugehen. Schließlich war er Richter.
»Also«, sagte er sich, »informiere ich die Polizei und es stellt sich als übler Scherz heraus, wäre ich schön blamiert. Informiere ich sie und es ist eine echte Entführung, wäre das sehr gefährlich für meine Tochter. Aber warum wartet der Entführer in meinem Haus? Er muss doch damit rechnen, dass ich die Polizei informiere. Nein, der weiß, dass ich für meine Kleine alles tun werde. Der kennt mich genau! Ich werde die Polizei nicht informieren. Das weiß der Kerl. Wer ist das? Ich muss schnell nach Hause.«
Er vergaß sein Treffen mit der Anwältin und machte sich auf den Weg. Die Stufen zum Erdgeschoss und die Strecke zu seinem Wagen nahm er in Rekordzeit.
Rekordverdächtig schnell fuhr er auch mit dem Auto, was zur Folge hatte, dass er stadtauswärts innerhalb des Ortes mit 85 Stundenkilometern von einem der neuen fest installierten Blitzgeräte geblitzt wurde. Das war ihm im Moment jedoch völlig egal. Das konnte er später erledigen. Da hatte er so seine Methoden und Beziehungen.
Seine Gedanken drehten sich um seine kleine Tochter. Als er an seinem Haus ankam, wurde er von Kowalski aus dem Fenster im 1. Stock beobachtet. Dieser sah mit Genugtuung, dass dem Richter niemand gefolgt war.
Kowalski lächelte. Na also. Es klappte doch.
Der Richter öffnete die Haustür und eilte ins Wohnzimmer. Dort sah er seine Frau auf der Couch liegen. Sofort ging er auf sie zu und schüttelte sie an der Schulter.
»Wach auf! Wie kannst du am hellen Mittag schlafen? Wo ist unsere Tochter? Kannst du nicht auf sie aufpassen?«
Kowalski kam die Treppe herunter und sah, wie der Richter seine Frau schüttelte.
»Lassen Sie sie in Ruhe. Sie schläft tief und fest. Ich habe ihr ein Schlafmittel gegeben.«
Der Richter ließ sie tatsächlich los, drehte sich um und sah Kowalski. Erst auf den zweiten Blick erkannte er ihn.
»Sie? Sie sind doch der Querulant mit dieser fixen Mobbingidee. Was fällt Ihnen ein?«
Er ging auf ihn zu und wollte seine Wut, die mittlerweile aufkam, an ihm auslassen. Er hob die Faust.
Kowalski blieb ruhig.
»Das würde ich an Ihrer Stelle nicht tun. Es könnte das Ende Ihrer Tochter bedeuten. Setzen Sie sich!«
Das war ein deutlicher Befehl und er wurde von Kowalski auch sehr deutlich und laut ausgesprochen. Werbusch blickte ihn ungläubig an. Er sah die Entschlossenheit in seinen Augen. Er sah eine tödliche Entschlossenheit.
Der Richter sank in einen Sessel nieder. Hatte er sich einen Moment lang überlegen gefühlt, so stieg nun wieder eine panische Angst in ihm hoch. Angst um seine kleine Tochter.
Kowalski holte aus dem Schrank zwei Gläser und schenkte in beide etwas Brandy ein. Er schob ein Glas zu Werbusch hinüber.
»Trinken Sie, Richter! Werden Sie brauchen.«
Kowalski trank das Glas aus, während der Richter es nicht anrührte.
Die Szene hatte für den Richter etwas Abstraktes. Da war ein Mann, der seine Tochter entführt hatte, in seinem Haus und unterhielt sich mit ihm in aller Ruhe und trank einen Brandy.
»Was soll das? Was haben Sie vor? Wo ist meine Tochter? Was wollen Sie?«
»Ganz einfach, Richter. Ich will Ihren Tod.«
Der Richter wurde blass.
»Was? Warum? Wieso? Warum machen Sie solche Scherze? Ich glaube, es ist an der Zeit, die Polizei zu holen.«
»Wenn Sie Ihre Tochter umbringen wollen – nur zu! Ich will den Tod meiner Tochter rächen. Sie haben mir nicht geholfen. Sie haben den Schuldigen geholfen. Nun sollen Sie auch sterben. Sie sind auch schuldig.«
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