Rainer Rau
Das Organkartell
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Inhaltsverzeichnis
Titel Rainer Rau Das Organkartell Dieses ebook wurde erstellt bei
1. Ein Tiger auf Abwegen
2. Leben und sterben lassen
3. Chronik eines Adelsgeschlechts
4. Das Loch in der Wand
5. Sonderseiten in der Zeitung
6. Durch’s offene Tor
7. Das Gruselhaus im Disneyland
8. Beziehungen
9. Gewissensbisse
10. Jahreshauptversammlung
11. Ein verführerisches Versuchsobjekt
12. So sans hoalt, die Bayern
13. Eine neue Niere ist wie ein neues Leben
14. Die Tochter des Präsidenten
15. Reporterin ermittelt
16. Drei Rehe
17. Videos beweisen – nichts
18. Neue Messer schneiden gut
19. Verdorbenes Fleisch fährt durch Polen
20. Katasterpläne
21. Leidensgenossen
22. Rumänin abfangen
23. Der falsche Bruch
24. Erntehelferinnen in Not
25. Tiger sind Feinschmecker
26. Google und andere Satellitenprogramme
27. Abmarsch
28. Die rechte Niere
29. Hoffnung oder hoffnungsloser Fall
30. Recherchen können gefährlich werden
31. Der größte Geheimdienst der USA
32. Vier Frauen – minus eine
33. Uneigennützigkeit
34. Zwei auf einen Streich
35. Matiss auf der Spur
36. Hoher Besuch
37. Warten und genau hinschauen
38. Blutgeruch ruft Brechreiz
39. Ein Abstellwagen
40. Wasserwerfer gegen Beinbiss
41. Bau einer Abschussrampe
42. Des Wasserwerfers kurze Reichweite
43. Jahresbilanz des Organkartells
Personen:
EPILOG
Impressum neobooks
Der Tiger lief in der Mitte der Straße, so als ob er nie etwas anderes gemacht hätte.
Es war ein ausgewachsenes Tier. Wenn er sich auf die Hinterbeine stellte, war er so groß wie ein Mensch.
Er wirkte nicht gehetzt, eher ruhig und keineswegs scheu. Es fuhr zum Glück kein Auto die Straße entlang und so lief er langsam und ungestört im Zickzackkurs von einer Straßenseite zur anderen. Dabei drehte er den Kopf, hob ihn ab und zu etwas an und zog die Luft durch die Nase ein, als ob er etwas suchte. Dabei schnupperte er mal rechts am Laternenmast, mal links am Verteilerkasten der Telekom.
Es war noch früher Vormittag und es versprach ein schöner, sonniger Tag zu werden.
Es war Freitag und alle zwei Wochen wurden am Freitag die Papiermülltonnen abgeholt. Das Müllfahrzeug war meistens früh dran.
Eine Frau schlug die Haustür auf und wollte noch schnell alte Zeitungen zur Tonne bringen, als sie den Tiger sah. Sie erstarrte. Er sah sie ebenso, änderte seine Richtung und ging langsam auf die Frau zu, die einen schrillen Schrei ausstieß, sich aus ihrer kurzzeitigen Ganzkörperlähmung löste, dann auf dem Absatz kehrt machte und wieder im Haus verschwand. Gerade noch konnte sie die Tür schließen, an der der Tiger nun schnupperte.
Er witterte Wasser. Er hatte Durst. Mit seiner Pfote kratzte er an der Tür, die aber geschlossen blieb. Dann drehte er sich plötzlich um und lief weiter der Straße entlang.
Weiter hinten, am Straßenende, tauchte nun ein
VW-Golf auf. Der Fahrer hatte das Tier gesehen, als es seinen Weg fortsetzte, und konnte kaum glauben, was er da sah. Er stoppte sein Fahrzeug und sperrte die Türen hastig mit der Zentralverriegelung zu. Dann schüttelte er den Kopf und sprach leise zu sich selbst.
»Als ob ein Tiger die Autotür öffnen könnte. Ich muss die Polizei anrufen. Anonym! Wenn ich denen erzähle, dass hier ein Tiger auf der Straße rumläuft, veranlassen die eine Blutprobe. Vom Kegelabend gestern habe ich bestimmt noch Restalkohol im Blut. Die nehmen mir dann glatt den Lappen weg!«
Der Tiger unterdessen setzte seinen Suchgang fort. Er hatte Durst. Er hielt weiter Ausschau nach einer Gelegenheit, etwas Wasser zu schlürfen. Doch es hatte seit Tagen nicht geregnet und so war weit und breit keine Pfütze in Sicht.
Als er an dem Haus Nr. 15 vorbei trottete, kam eine Deutsche Dogge aus dem Garten um die Hausecke gelaufen, das Maul fletschender Weise geöffnet und die Zähne freigelegt. Jeder Mensch hätte sich bei diesem Anblick zutiefst erschrocken. Sein wildes Gebell jedoch zeigte beim Tiger keine Reaktion. Ein moderner Eisenstabzaun trennte die beiden.
Obwohl die Dogge, ein Rüde mit 80 Zentimeter Widerristhöhe, fast genauso groß wie der Tiger war, hätte dieser ihn wohl mit einem Biss erledigt. Der Tiger schaute ihn nur kurz mit einem fast mitleidigen Blick an und kehrte ihm den Rücken.
Beide hätten wohl über den Zaun springen können. Die Dogge gewiss mit Anlauf. Der Tiger sicher aus dem Stand. Aber beide wollten dies anscheinend nicht. Der Hund wohl, weil er wusste, dass ihn der Tiger mit einem Biss in die Kehle hätte töten können. Der Tiger wusste das sicher auch, doch er wollte es nicht. Er hatte keinen Hunger. Er hatte Durst. Und so setzte er seinen Weg auf der Suche nach durststillendem Nass fort.
Zum Glück waren zu solch früher Stunde keine Menschen auf der Straße unterwegs. So sahen den Tiger allerdings auch nur einige Menschen.
Die Sonne stand nun schon hoch am Himmel und es wurde noch heißer.
Der Fahrer des Golfs hatte mittlerweile mit seinem Handy die 110 gewählt.
»Polizeirevier 11. Schneider. Was kann ich für Sie tun?«
»Mein Name ist Peter Hubert. Ich fahre gerade die Bahnhofstraße in Richtung Innenstadt. Hören Sie zu. Ich bin vollkommen nüchtern. Hier läuft ein ausgewachsener Tiger frei herum.«
Er musste es noch zweimal wiederholen, erst dann glaubte ihm der Beamte. Nachdem er noch die genaue Lage durchgegeben hatte und die Personalien notiert waren, wollte man noch wissen, was der Tiger zurzeit mache.
Leicht ungehalten gab der Zeuge seinen Kommentar.
»Ich glaube, er ist auf dem Weg zu Ihnen. Kommen Sie ihm doch etwas entgegen.«
Verärgert klappte er sein Handy zu und ließ seinen Ärger lautstark heraus.
»Was macht der Tiger jetzt? Was soll er schon machen? Er tigert halt so rum. Die glauben es mir wohl nicht!«
Der Tiger setzte unterdessen seinen Weg fort. Nach weiteren hundert Metern witterte der Tiger hinter einer Buchsbaumhecke, vor dem Haus Nr. 38, einen kleinen Teich.
Mit einem Satz sprang er über die halbhohe Hecke und schlich sich an das erfrischende Nass.
Er schaute sich nach allen Seiten um und berührte mit einer Tatze die Wasseroberfläche, so als wolle er testen, ob sich auch keine Falle im Wasser befindet. Dann trank er genüsslich, indem er seine Zunge immer wieder ins Wasser schnellen ließ.
Vom Hause aus wurde er dabei beobachtet. Der vierjährige Sohn der Familie Torschack hatte die Szene beobachtet und kam nun aufgeregt zu seiner Mutter gelaufen, die gerade in der Küche einen Obstboden mit frischen Erdbeeren belegte.
»Mama, Mama, da draußen ist ein Löwe. Der frisst unsere Goldfische!«
»Kevin! Was hat die Mama gesagt? Du sollst nicht so flunkern! Sonst glaubt man dir nicht, wenn wirklich mal ein Löwe bei uns im Garten steht.«
»Aber da ist wirklich ein Löwe!«
»Jetzt aber Schluss mit dem Unsinn, sonst gibt es nachher keine Gutenachtgeschichte! Und außerdem hast du versprochen, den Müllbeutel rauszubringen. Das kannst du jetzt mal gleich erledigen. Ok?«
»Und der Löwe tut mir nichts?«
»Kevin! Nein! Der tut dir nichts, weil er gar nicht da ist.«
Kevin war verunsichert. Hatte er sich getäuscht? Hatte er ein Tier gesehen, was gar nicht da war? Das musste sich ja draußen aufklären. Er wollte nachschauen.
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