Nun hatte ihn der Anwalt auf eine Idee gebracht. Er suchte nach Beweisen im Zimmer.
Und er fand etwas.
Im Bücherregal zwischen den alten Lehrbüchern aus der Schulzeit und den kitschigen Liebesromanen fand er ein rotes Buch, welches zwar genau die gleiche Größe hatte wie alle anderen Bücher, aber nur halb so dick war. Er nahm es aus dem Regal und sein Pulsschlag ging schneller. Der Aufkleber war mit blauer Tinte in schönsten Buchstaben beschrieben: Mein Tagebuch .
Marions Tagebuch!
Warum war er nicht gleich auf die Idee gekommen, hier nachzuschauen?
Aber warum sollte er?
Er hatte nicht gewusst, dass sie ein Tagebuch geschrieben hatte. Sie hatte mal gesagt, dass sie so etwas kitschig finden würde. Außerdem macht man das heute doch mit Videoaufzeichnungen, wenn überhaupt, in ihrem Alter.
Er blätterte Seite für Seite um und fand für beinahe jeden Tag ihrer Dienstzeit einen Eintrag.
Er war erschüttert. Seine Tochter hatte alles genau aufgeschrieben. Wer, wann, was, wie es geschah. Wie sie sich fühlte. Welcher Pein sie ausgesetzt war. Wer ihr das alles antat.
Kowalski weinte. Er hatte seiner Tochter nicht helfen können. Er hatte all dies nicht gewusst, was er jetzt las. Sie hatte ihn nicht ins Vertrauen gezogen.
Warum hatte sie ihn nicht ins Vertrauen gezogen? Er war doch ihr Vater. Er hätte ihr helfen können.
Kowalski dachte nach. Hätte er ihr wirklich helfen können? Wohl eher nicht. Was hätte er denn tun können? Zu den Kollegen gehen und ihnen sagen: Hört mal zu, ihr bösen Buben, wenn ihr meine Tochter nicht in Ruhe lasst, bekommt ihr es mit mir zu tun!
Kowalski sah die Ausweglosigkeit.
Er rief nochmals seinen Anwalt an und teilte ihm den Fund des Tagebuches mit. Der bestellte ihn für den nächsten Vormittag in die Kanzlei.
Am nächsten Tag schaute sich der Anwalt das Tage-buch an und besprach sich mit seinem Mandanten.
»Die Namen sind nicht ausgeschrieben. Nur die Anfangsbuchstaben. Das ist nicht verwertbar. Da macht kein Richter mit.«
»Aber wir können es doch zumindest probieren. Die Datierungen sind ausschließlich Arbeitstage von Marion.«
»Selbst wenn wir damit den Richter überzeugen könnten, die Gegenseite wird uns das Tagebuch um die Ohren hauen. Das kann sonst wer geschrieben haben. Es kann auch eine Romanvorlage sein. Reine Fiktion.«
»Das glauben Sie doch nicht im Ernst!«
Kowalski war empört.
»Nein, natürlich nicht. Aber die Gegenseite wird so argumentieren und wir können keinen Beweis antreten.«
»Wir müssen es versuchen. Ich werde sonst noch verrückt.«
»Also gut. Machen wir Folgendes: Ich werde sehen, ob wir einen Gesprächstermin beim zuständigen Richter bekommen können. Das ist zwar nicht üblich, aber in Ihrem Fall macht man da bestimmt eine Ausnahme. Dann sehen wir weiter. Gibt er uns die Empfehlung zu klagen, werden wir das tun. Wenn nicht, müssen wir die Sache begraben. Einverstanden?«
Kowalski nickte zögerlich.
Der Anwalt hatte schon einen Tag später eine Verhandlung, die Richter Werbusch als Vorsitzender leitete. So ergab sich nach der Verhandlung ein kurzes Gespräch.
Martin Werbusch, der allgemein bekannt war für seine arrogante Art und den Anwalt schon abwimmeln wollte, ließ sich auf ein Gespräch ein, als der Anwalt ihm zu verstehen gab, dass sein Mandant sonst gewisse Fernsehsender anschreiben und dort um Hilfe bitten würde.
Nachfragen von kritischen Fernsehsendern konnte Werbusch im Augenblick nicht gebrauchen. Werbusch stimmte einem Gespräch schließlich zu und stellte die Bedingung, es sollte ein Vertreter der Polizei dabei sein und sie hatten nur eine Stunde.
Als der Anwalt Kowalski das mitteilte, passte ihm es gar nicht, er musste es aber so hinnehmen.
Das Gespräch fand zehn Tage später im Dienstzimmer des Richters statt. Anwesend waren ein Polizeipsychologe, der Einsatzleiter der Wache 1 der Schutzpolizei, Kowalski und sein Anwalt.
Der Richter wirkte, wie ihm sein Ruf vorauseilte, auf Kowalski arrogant und überheblich.
»Machen Sie hin, Herr Anwalt. Meine Zeit ist begrenzt. Ihnen ist schon klar, dass dies keine offizielle Anhörung, sondern nur ein einfaches Gespräch, also für eine spätere Verhandlung nicht im Geringsten relevant ist!«
Es war eine Feststellung, keine Frage.
»Ja, Herr Richter. Mein Mandant ist der Meinung, dass seine Tochter systematisch in ihrer Dienststelle von den Kollegen gemobbt wurde. Dies belegen auch die Aufzeichnungen in ihrem Tagebuch und ebenso die Aussagen der Kolleginnen.«
Der Polizeipsychologe ging schon auf Konfrontation.
»Aber das stimmt so doch gar nicht. Keine einzige Aussage von den Kolleginnen wurde uns gegenüber geäußert. Und die Tagebucheinträge können wer weiß was bedeuten. Jedenfalls beweist das kein Mobbing durch die Kollegen. Ist es überhaupt ein Tagebuch der Kollegin Kowalski? Kann es nicht auch zweckdienlich von Dritten geschrieben worden sein? Und im Übrigen, was wollen sie eigentlich? Die Kolleginnen und Kollegen vor Gericht zitieren?«
So zog sich das Gespräch hin. Meinung und Gegenmeinung. Fakten und deren Widerlegung.
Der Richter sah gelangweilt auf seine Rolex und gähnte.
Nach fünfundvierzig Minuten unterbrach er die Sitzung. Er gab eine abschließende Bewertung der Situation ab.
»Also, meine Herren. Was sind hier Fakten? Eine tote Frau, die sich selbst das Leben genommen hat. Ihre Tochter, Herr Kowalski, hat zu keiner Zeit eine Anzeige gegen die von Ihnen beschuldigten Personen erstattet. Warum nicht? Der Beweis, dass man Ihre Tochter in den Tod getrieben hat, dürfte schwerlich zu erbringen sein. Zudem hat sie sich zu keiner Zeit ihrem Vorgesetzten mitgeteilt und um Rat gefragt. Ich zweifle nicht an der Echtheit des Tagebuches. Aber die Aufzeichnungen darin ergeben kein klares Bild und sind als Beweismittel, für was auch immer, völlig ungeeignet. Mobbing ist kein Straftatbestand, wenn es nicht zu weiterführenden Situationen kommt. Findet sich kein Zeuge, der bestätigen würde, dass eine Situation vorgelegen hat, aus der ein permanentes Mobbing hervorgegangen sein könnte, welches der Anlass war, dass sich ihre Tochter das Leben genommen hat, so kann ich Ihnen keine Hoffnung auf ein Verfahren machen. Es wird nicht zugelassen. Hier steht mein Grundsatz: Urteile nach bestem Wissen und Gewissen. Mein Gewissen sagt mir, Ihnen zu raten, die Sache, so wie sie ist, auf sich beruhen zu lassen. Vor Gericht hätten Sie schlechte Karten. Beraten Sie sich mit Ihrem Anwalt. Nun muss ich Sie bitten zu gehen. Ich habe noch zu tun.«
Eberhard Kowalski war es schlecht. Sein Magen meldete sich wieder. Er stand auf und ging ohne ein weiteres Wort auf den Gang. Er suchte die Toilette auf und übergab sich.
4. Ein schlagender Richter.
Als Kowalski sich auch in den nächsten Tagen nicht beruhigte und unter massiven Beschwerden im Bauchbereich klagte, rief seine Putzfrau, die wöchentlich einmal die Wohnung reinigte, den Hausarzt an. Dieser diagnostizierte eine vegetative Störung des Magen-Darmtraktes und verschrieb ihm ein starkes Beruhigungsmittel. Kowalski übertrieb es mit der Dosierung und nahm die doppelte Menge. Zusätzlich schluckte er abends ein starkes Schlafmittel, das ihm der Hausarzt ebenfalls verschrieben hatte. Im Schlaf fantasierte er und sah seine Tochter mit dunklen Gestalten ringen. In seinen Träumen schrie sie nach ihm. Dann wachte er meistens schweißgebadet auf und schlief nicht mehr ein. Dafür war er am Tage müde und abgespannt.
Er war ein reines Nervenbündel.
Nach vier Wochen änderte sich das schlagartig. Er las beim Frühstück in der Zeitung einen Bericht über einen Prozess, in dem eine junge Lehrerin ihren Kollegen angezeigt hatte. Sie war von ihm sexuell belästigt, erniedrigt und vor anderen Menschen verspottet worden. Und das über einen längeren Zeitraum. Obwohl in diesem Fall Zeugen zu ihren Gunsten aussagten, insbesondere eine Freundin der Lehrerin, die mindestens einmal Zeugin eines Übergriffs wurde, ging das Urteil zu Gunsten des Beklagten aus. Er wurde freigesprochen.
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