„Ich … ich habe einen Spaziergang gemacht“, stotterte sie. Ihre linke Wange brannte. „Sie war nur ganz kurz allein.“
Konrad packte ihren Arm so fest, dass es wehtat. Becky, die ihren Mann um volle zwei Zentimeter überragte, schrumpfte neben ihm zusammen; am liebsten hätte sie sich in eine Ecke verkrochen.
„Lüg mich nicht an!“ Er sah ihr in die Augen und Becky hatte das Gefühl, vor einem Fremden zu stehen. Noch nie hatte sie ihn so wütend erlebt. Und sie verstand ihn, es war sein Recht, wütend auf sie zu sein. Niemals hätte sie tun dürfen, was sie getan hatte, niemals wieder würde sie sich im Umgang mit Isa einen solchen Fehler zuschulden kommen lassen! Sie würde Lilith kein weiteres Mal die Tür öffnen.
„Verzeih mir“, flüsterte sie.
„Ich fahre mit Isabell zum Arzt, etwas stimmt nicht mit ihr“, sagte Konrad. „Damit meine ich nicht nur die Schläfrigkeit.“
„Der Ausschlag, ja“, begann Becky, „aber mehr als eincremen …“
„Eincremen nennst du das!“ Er ließ sie stehen und ging zurück ins Kinderzimmer, wo er die oberste Schublade des Wickeltisches aufzog und etwas hervorkramte, um es ihr unter die Nase zu halten. Zitronenduft stieg daraus auf. Verständnislos betrachtete Becky die Flasche Scheuermilch. „Das hier benutzt du zum Eincremen! Ich habe Reste davon in der vollen Windel gefunden … und nicht nur dort …“ Er schien kurz davor, noch einmal zuzuschlagen, doch er beherrschte sich. Tränen glitzerten in seinen Augen. Sie blickten einander an und Becky spürte, wie etwas zerbrach.
„Das kann nicht sein“, flüsterte sie. „Das muss Lilith gewesen sein.“
Beim Klang des Namens regte sich Isabell in ihrem Bettchen. „Li-lith“, murmelte sie.
„Hör mir auf mit diesem angeblichen Kindermädchen!“, fauchte Konrad und riss Isabell an sich. „Ich habe mich in den letzten Tagen ein bisschen umgehört. Niemand von unseren Nachbarn hat etwas von Liliths Besuchen mitbekommen. Und zumindest die alte Gäbsch ist immer im Garten.“
Becky schüttelte den Kopf, ihre Gedanken überschlugen sich. Wo zum Teufel hatte sie das Papier hingelegt, auf das Lilith ihren Namen geschrieben hatte? „Du hast sie dir eingebildet, Rebekka“, sagte ihr Mann etwas ruhiger. „Irgendwie hast du es geschafft, Isabell mit deiner fixen Idee anzustecken. Wahrscheinlich hat sie dir bei deiner Pinselei zugeschaut und du hast ihr diesen Namen eingetrichtert … Ich fahre jetzt in die Kinderklinik, wir reden nachher weiter. Ich denke du hast ein ernsthaftes Problem.“
Argwöhnisch beobachtete Rebekka, wie die Kinderkrankenschwester den Sitz der Infusionsnadel kontrollierte, die in Isabells Handrücken steckte. Seit drei Tagen, drei schrecklichen, nicht enden wollenden Tagen, lag das Mädchen im Koma. Fast ununterbrochen wachten Konrad und Becky an ihrem Bett, hofften, sie würde endlich die Augen aufschlagen. Nach dem Vorfall im Kinderzimmer hatte Becky ihren Mann nur mit Mühe überreden können, sie in die Klinik mitzunehmen. In der Notaufnahme hatte er unter vier Augen mit dem zuständigen Arzt gesprochen, und Becky konnte nur vermuten, dass es dabei um ihre Rolle in dem Unglück, das ihrer Tochter widerfahren war, ging.
Ja, sie hatte sie allein gelassen, sie war sich ihrer Schuld voll bewusst. Aber dass der kleine Körper vollgepumpt gewesen war mit einem Schlafmittel, dafür konnte man doch nicht sie verantwortlich machen … Selbst wenn die Analyse ergeben hatte, dass es sich um dasselbe Medikament handelte, das Becky in ihrem Medizinschrank verwahrte und das ihr wegen nervöser Schlafstörungen verschrieben worden war.
Sie hatte ein Gespräch mit einem Psychiater führen müssen, der sie fragte, ob sie sich daran erinnerte, ihrer Tochter das Mittel verabreicht zu haben, was Becky fassungslos verneinte. Die Worte des Arztes rauschten an ihr vorbei, ohne dass sie den Inhalt erfassen konnte. Der Begriff „Missbrauch von Schutzbefohlenen“ war gefallen sowie „Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom“, was ihr zunächst nichts sagte und sie, als es ihr erklärt wurde, vollends aus dem Gleichgewicht brachte. Als ob sie ihrem Kind mit Absicht Schaden zugefügt hätte, um Anerkennung für die aufopferungsvolle Pflege zu erheischen. Absurd. Das alles war ein einziger Alptraum! Isabell war einfach ein anspruchsvolles, kränkliches Kind, das rund um die Uhr betreut werden musste, war es schon immer gewesen. Becky hatte getan, was sie konnte – und nun? In eine psychiatrische Klinik wollte man sie einweisen, morgen schon. Sie konnte von Glück sagen, dass man ihr gestattet hatte, sich unter Aufsicht von Isabell zu verabschieden.
Die Schwester warf einen letzten Blick auf den Überwachungsmonitor und nickte zufrieden. Sie lächelte Konrad zu, der auf dem Stuhl an der Tür des in freundlichem Gelb gehaltenen Einzelzimmers Platz genommen hatte, vermied es jedoch, Becky anzusehen. „Ich bin hier fertig. Sie beide können gern noch bleiben. Sie wissen ja, Herr Koch, dass Sie Ihre Frau nicht mit dem Kind allein lassen dürfen.“
Konrads Kopf ruckte kurz auf und ab. „Natürlich.“ Die Schwester nickte abermals und ging.
„Ich werde meine Tochter ganz sicher nicht mit ihrer Mutter allein lassen“, fügte Konrad hinzu, als sie längst wieder unter sich waren. Er musterte Becky, das Gesicht eine Maske der Enttäuschung.
Rebekka wagte nicht zu sprechen. Sie betrachtete die schmale, stille Gestalt ihrer Tochter und spürte, wie ihr erneut die Tränen kamen. Konrad rückte den Stuhl näher ans Krankenbett, faltete die mitgebrachte Zeitung auseinander und begann zu lesen.
Die Wände schienen Becky vorwurfsvoll zu mustern; die Farbe weniger fröhlich als vielmehr grell. Sie erinnerte Rebekka an die Flasche Scheuermilch, die sie ins Kinderzimmer getragen hatte, um die Fensterbank zu putzen. Die sie hinterher im Wickeltisch verstaut hatte. Die sie kurze Zeit später wieder herausgenommen hatte … Das Gefühl von Sand unter den Fingerspitzen … Der Geruch nach künstlicher Zitrone … Isabell war stets von einem Hauch dieses Geruchs umgeben gewesen.
Lilith , dachte Becky, es kann nur Lilith gewesen sein.
Nein , hörte sie Liliths Stimme in ihrem Kopf. Ich habe deinem Kind kein Leid zugefügt. Du kennst die Wahrheit.
Die Worte rissen das Tuch von dem Bild, auf dem sich – erst schemenhaft, dann immer klarer – die Wirklichkeit abzeichnete, so niederschmetternd, so widerwärtig, dass Becky die Augen sofort wieder geschlossen hätte, wäre das Bild nicht in ihrem Innern entstanden. Alles ergab einen Sinn. Nicht eine Sekunde war Lilith mit Isabell allein gewesen – sie jedoch schon. Stunden, unzählige Stunden. Rebekka sah sich selbst, wie sie ans Medizinschränkchen ging. Das Knistern von dünner Alufolie, wenn man eine der kleinen weißen Tabletten mit der Sollbruchstelle aus der Packung drückt.
Sie stöhnte leise. Als sei ein Damm gebrochen, stürzten die Erinnerungen auf sie ein. Die Krabbelgruppe … Isa hatte mitgespielt, bis sie von einem anderen Kind geschubst wurde …
Das Krankenzimmer begann sich zu drehen, Becky stützte sich mit der Hand an der Fensterbank ab. Ihr Blick streifte den blauen Himmel, den tief unter ihr liegenden Parkplatz. Sie hatte nicht gewollt, dass Isa weiterhin mitmachte, verletzt wurde, war mit ihr in den Wickelraum gegangen und dort … hatte sie die zarte Haut zwischen Daumen und Zeigefinger genommen und hin und her gerollt, so fest zugedrückt, wie sie konnte …
Rebekka schlug die Hände vor den Mund, um einen Schrei zu unterdrücken. Und die Milch … Sie hatte immer zuerst einen Spritzer Spülmittel ins Fläschchen gegeben, bevor sie es mit Bio-Milch auffüllte. Die unzähligen Krämpfe, der nässende Ausschlag, all die Leiden, die ihre Tochter durchgemacht hatte und die sie in hingebungsvoller Pflege mit durchlitten hatte – sie war dafür verantwortlich! Nein, nein, nein! Das konnte nicht sie gewesen sein, die ihrem kleinen blonden Engel, ihrem größten Schatz, so etwas Abscheuliches antat! Es musste Lilith sein, Lilith, die ihr Kind töten wollte, um sie in den Wahnsinn zu treiben!
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