In eigener Sache
Was verstehe ich unter Bewusstsein?
Für mich bedeutet Bewusstsein alles, dessen wir uns gewahr sind. Eigentlich macht es unsere ganze Realität aus. Wenn aber der Verstand, der in unserem System sehr gut funktionieren muss und immer aktualisiert wird, ein verfälschtes Abbild dem Bewusstsein vermittelt, so bekommt das Bewusstsein ja auch eine falsche Wahrnehmung.
Ich muss auch dazu sagen, dass sich meine Träume wandelten. Ich fing an mit Gott zu hadern. Ich gab ihm die Schuld. Er war für mich an allem Schuld, denn so wie mein Vater mich geschlagen und verlassen hatte, so hatte mich auch Gott verlassen.
Also wir kamen wieder in das gottverlassene Waisenhaus zurück. Bei mir stellte sich
ein physisches Problem ein und zwar das Bettnässen. Unter Androhung von Schlägen, sollte ich es sein lassen. Ich lebte fast nur noch in der Anderswelt. Die eigentliche Realität interessierte mich nicht mehr. Ich hatte mich soweit entwickelt, am Anfang unbewusst, dann bewusst alles um mich herum, was mich störte, auszuschalten. Wie wenn sie einen Schalter umlegen, Licht an, Licht aus. Und schon war ich in meiner eigens für mich geschaffenen Realität.
Ich wachte auf und schon ist es wieder passiert. Das Bettlaken war nass und wie nass es war. In meiner Verzweiflung tauschte ich das Bettlaken mit Willis Bettlaken aus.
Als wir im Grossen Saal frühstückten, kam der Aufruf zur Schwester Oberin zu kommen.
Da stand ich wie das Opferlamm.
Sie schaute mir tief in die Augen. „Hast Du das Bettlaken ausgetauscht?“ „Ja, sagte ich!“
Sie lächelte mich an, gab mir einen Schmatz auf die Backe und sagte: „ Du wirst schon Deinen Weg gehen.“ Ich fasste den Entschluss, nachdem ich fast ein halbes Jahr in diesem gottbescheidenen Waisenhaus war, abzuhauen. Die Vorgehensweise wie ich es anstellen wollte und nach meiner Flucht wie es dann weitergehen sollte, war geplant.
Doch ich hatte eines vergessen. Ich konnte doch nicht meine Schwester alleine in diesem bescheidenen klosterähnlichen Waisenhaus lassen. Als eigentlich mein Entschluss feststand doch abzuhauen, kam überraschend die Aussage, dass sich ein neues Elternpaar für uns entschieden hat.
Sie müssen sich das so vorstellen, dass ein Kind wo keine eigenen leiblichen Eltern hat, schutzlos der Gesellschaft im Grossen und Ganzen ausgeliefert ist. Nicht einmal seinen elterlichen Namen darf man mehr behalten. Es wird einfach die eigene Identität ausgelöscht.
Mein Vater, der in Amerika lebte, hat uns nicht haben wollen und somit zur Adoption frei gegeben. Die Verwandtschaft, die sich nach Mutters Beerdigung alles unter den Nagel gerissen hatte, wollte von uns anscheinend auch nichts wissen. Wissen Sie, wie man sich fühlt, wenn einem nicht einmal ein Bild von seiner Mama bleibt? Wissen Sie wie das ist?
Alpträume, Schläge, Verbote pur.
Freudestrahlend erzählte uns eines Morgens
beim Frühstück eine Schwester in rosigen Farben, dass wir zu reichen Eltern kommen. Sie haben viel Geld, so viel Geld, dass ihr euch alles wünschen könnt, was ihr wollt. Sie wohnen in einem ganz grossen Haus.
In diesem Moment fiel mir die Geschichte von Aladins Wunderlampe ein. Ich vernahm kein Wort von Liebe und Geborgenheit, das wir in diesem Moment am meisten gebraucht hätten.
Wir wurden wieder in diesen besagten Raum gestellt. Die Tür ging auf. Aber was war das? Es kam nur ein Mann herein.
Wo war denn die Frau dazu, dachte ich mir. Der Mann redete mit uns, und irgendwie kamen wir uns drei näher. Er sagte zu uns, dass wenn alles klappt er uns in ein paar Tagen abholen wird. Der Tag kam näher. Der Mann war wieder da. Unser Karton mit den paar Sachen wurde von ihm mitgenommen.
Er malte uns unser neues Zuhause genauso wie die Schwestern in rosaroten Farben aus. „Habt Ihr Hunger?“ fragte er uns plötzlich während der Autofahrt. „Klar haben wir Hunger.“ sagte meine Schwester. Wir machten einen Abstecher in ein Hotel. Diese Menschen in diesem Hotel schauten uns mit Argus Augen besonders an. Wir kamen uns vor wie Exoten.
Mein zukünftiger Adoptivvater kannte anscheinend diese Menschen. Es gab Bratwürste mit Sauerkraut. Das Hotel hieß Pflaums Posthotel Pegnitz. Wir waren in der Fränkischen Schweiz angekommen.
Nachdem wir gegessen hatten, verabschiedete sich mein Adoptivvater von diesen Menschen und die Reise ging zu unserem rosarot ausgemalten Domizil und der Flaschengeist wartete schon auf uns. Wir stiegen aus
und sahen das grosse Haus. Ich dachte mir: „Wow, ist das unser neues Zuhause?“ Ja es war anscheinend unser neues Zuhause.
Was jetzt kommt, hätte ich nie und nimmer gedacht. Das was jetzt kommt, ist unvergesslich. Mein Vater schloss die Eingangstür auf. Wir gingen durch einen langen Gang, der nicht enden wollte. „Links!“ sagte mein Adoptivvater „und da bleibt ihr stehen!“ Irgendwie fühlte ich mich nicht wohl. Irgendwie fühlte ich mich wie bestellt und nicht abgeholt, und so muss es auch meiner Schwester ergangen sein. Wir standen sogar ganz alleine, immer noch alleine, hinsetzen trauten wir uns nicht. Tja und jetzt?
Da kam sie die Pseudomutter - eine wuchtige Erscheinung. Irgendwie schaute sie böse und grandelig aus. Und das soll unsere zukünftige Adoptivmutter sein, diese fette schwabbelige Gestalt. Sie musterte uns von oben bis unten und wieder und wieder, von oben bis unten. Wir kamen uns vor wie im Zoo.
„Setzt Euch!“ Mehr kam nicht aus ihrem schwabbeligen Gesicht. Ich dachte sie haben uns jetzt in ein Straflager versetzt. Als ich den Blick nach unten richtete, sah ich Struppi, einen Mischlingshund. Mit grossen Kulleraugen sah er mich an.
„Möchtest Du mit ihm Gassi gehen?“ sagte die dicke Frau. „Ja!“ sagte V.. „Dann geht beide!“ Der nette Mann zeigte uns den Weg, Struppi nahmen wir an die Leine und los ging es in Richtung Wald. „Was war das denn?“ sagte V.. „Das soll unsere zukünftige Mutter sein? Kann ich mir nicht vorstellen.
Hast Du ihre gelben Zähne gesehen? Und nach Rauch stinkt sie auch noch! Oh, oh, nein danke!“ Als wir mit Struppi wieder zurück kamen, war der nette Mann auch wieder da.
Unsere zukünftige Adoptivmutter war irgendwie freundlicher. „Kommt ich zeige Euch das Haus!“ „ Darf Struppi mit?“ „ Aber sicher!“ sagte der nette Mann. „Mensch ist das ein grosses Kinderzimmer!“ sagte V.. „Da dürft Ihr beide Euch in Zukunft wohlfühlen!“
sagte er. Ich muss dazu sagen, es war für uns damals ein sehr grosses Haus. Allein das Wohnzimmer hatte eine Deckenhöhe von
3,30 m und der Raum insgesamt hatte 54 m².
Mit unserer zukünftigen Adoptivmutter kamen wir auch immer besser zurecht. Irgendwie hatte ich das Gefühl, sie konnte mit uns Kindern nichts anfangen. Heute war es so weit. So wie es angekündigt wurde, mussten wir heute, und das zum ersten Mal, in die Kirche.
„Ja toll!“ sagte ich. „Endlich mal raus!“ kam es von V.. Wissen Sie mit welchen Anziehsachen wir zur Kirche marschieren durften?“ Nicht mit Sonntagskleidung, nein, mit ausgelutschten Trainingsanzügen in verwaschenem blau. V. und ich schämten uns mit diesen Klamotten in die Kirche gehen zu müssen. Dazu kam noch, dass wir alleine den Weg zur Kirche finden mussten. Ihre Anweisung war: „ Immer der Kirchturmspitze nach!“ Sogar im Waisenhaus bekamen wir am Sonntag schönere Anziehsachen an.
Als wir in die Kirche eintraten, gafften uns die Menschen an wie Exoten. Wir wurden regelrecht zur Schau gestellt, und jeder sollte sehen wo wir herkamen. „Mei!“ dachte ich mir, wir sind doch schon genug bestraft worden. Und jetzt mussten wir auch noch die Hosen herunter lassen und das in einem Dorf mit 640 Einwohnern. Im Grossen und Ganzen war es aber bei unseren neuen Adoptiveltern recht schön. Ich war oft mit Struppi unterwegs und vertraute ihm meine Geheimnisse an.
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