In seiner Stimmung war Julian über die Frechheit der Lakaien empört. Er durchschritt die einstigen Schlafsäle der Abtei und rüttelte an allen Türen, an denen er vorbeikam. Eine kleine Pforte sprang auf, und Julian stand in einer Zelle mitten unter einer Schar von bischöflichen Kammerdienern in schwarzer Livree, mit Ketten um den Hals. Da er so ungestüm eintrat, glaubten die Leute, er sei zu Monsignore befohlen und ließen ihn durch. Nach ein paar Schritten befand er sich in einem riesigen, überaus düsteren gotischen Saale, dessen Wände und Decke mit dunklem Eichenholz getäfelt waren. Die Spitzbogenfenster waren mit Ausnahme eines einzigen mit Ziegelsteinen vermauert. Dies rohe Werk bildete einen trübseligen Gegensatz zu dem prächtigen alten Getäfel. An den beiden Langseiten des Saales standen Reihen von reichgeschnitzten Chorstühlen, auf denen man in buntem Holzmosaik sämtliche Mysterien der Apokalypse sehen konnte. Der Saal war unter den burgundischen Altertümern berühmt. Karl der Kühne hatte ihn um 1470 als Buße für irgendeine Sünde erbaut.
Der wehmütige Prunk dieses durch die nackten Ziegelsteine und ihren grellen Mörtel geschändeten weiten Raumes ergriff Julian. Stumm blieb er stehen. Mit einemmal erblickte er am jenseitigen Ende des Saales, nahe dem einzigen unvermauerten Fenster, durch das helles Tageslicht fiel, einen drehbaren Spiegel in einem Mahagonirahmen. Drei Schritte davor stand ein junger Mann in violettem Meßgewand und einem Chorrock mit Spitzen, ohne Kopfbedeckung. Der Spiegel gehörte offenbar nicht an diesen frommen Ort; zweifellos war er aus der Stadt hergeholt. Julian hatte den Eindruck, daß der junge Mann ein grämliches Gesicht machte. Eben erteilte er, mit der Rechten nach dem Spiegel, würdevoll seinen Segen.
Was soll das wohl bedeuten? dachte Julian. Hält der junge Geistliche da ein Art Generalprobe? Vielleicht ist es der Sekretär des Bischofs ... ebenso unverschämt wie die Lakaien ... meinetwegen ... wir werden ja gleich sehen ...
Er ging weiter, ziemlich langsam, und durchquerte den Saal seiner Länge nach, den Blick dem hellen Fenster zugewandt. Er sah, wie der junge Mann immer wieder seinen Segen spendete, gemächlich, aber in einem fort, ohne sich einen Augenblick Rast zu gönnen.
Je näher Julian an ihn herankam, um so deutlicher erkannte er den griesgrämlichen Ausdruck seines Gesichts. Wenige Schritte vor dem Spiegel blieb Julian unwillkürlich stehen, betroffen über die prunkhaften Spitzen am Chorrocke des jungen Priesters.
„Es ist meine Pflicht, ihn anzureden“, sagte sich Julian schließlich. Aber die Schönheit des Saales hatte es ihm angetan, und darum empfand er im voraus die Häßlichkeit der groben Worte, die er wohl als Antwort zu erwarten hatte. Da erblickte ihn der junge Mann im Spiegel und kehrte sich nach ihm um. Seine griesgrämliche Miene war mit einemmal verschwunden. Im verbindlichsten Tone sagte er: „Nun, Verehrtester, ist sie endlich fertig?“
Julian war starr. Da sich der junge Mann umgewandt hatte, sah er das Bischofskreuz auf seiner Brust. Das war also der Bischof! „In der Tat: sehr jung!“ sagte er sich. „Er ist höchstens sechs bis acht Jahre älter als ich.“
Jetzt schämte sich Julian seiner Sporen.
„Eure Eminenz“, begann er schüchtern, „der Herr Dekan des Kapitels, Herr Chélan, schickt mich ...“
„Aha! Ein ausgezeichneter Mann, wie man mir gesagt hat“, erwiderte der Bischof in so überaus höflicher Weise, daß Julians Entzücken noch wuchs. „Aber entschuldigen Sie nur, Herr Abbé, ich hielt Sie versehentlich für die Person, die mir meine Mitra bringen soll. Man hat sie mir in Paris schlecht verpackt. Der Silberbrokat an der Spitze war schrecklich zerknüllt. Sie wird übel aussehen – und nun muß ich auch noch warten.“
„Monsignore“, sagte Julian, „wenn Eure Eminenz es gestatten, werde ich die Mitra holen.“
Julians schöne Augen taten das ihre.
„Tun Sie es, Herr Abbé!“ antwortete der Bischof voll liebenswürdiger Artigkeit. „Ich muß sie sofort haben. Ich bin untröstlich, daß ich die Herren vom Kapitel warten lasse.“
Als Julian in der Mitte des Saales war, drehte er sich nach dem Bischof um und sah, daß er wieder beim Segnen war. „Was soll das?“ fragte er sich. „Ohne Zweifel ist das eine Vorbereitung für die in Aussicht stehende Feierlichkeit.“
Beim Eintritt in die Zelle, in der sich die Diener aufhielten, bemerkte er die Mitra in ihren Händen. Widerwillig fügten sie sich dem Herrenblicke Julians und reichten ihm die Bischofsmütze.
Julian war stolz, daß er sie bringen durfte. Als er den Saal wieder durchquerte, ging er ganz langsam. Er trug sie voll frommer Scheu. Der Bischof hatte sich gesetzt, und zwar vor den Spiegel. Seine Rechte war müde geworden, aber hin und wieder teilte sie immer noch den Segen aus. Julian half ihm die Mitra aufsetzen. Sodann schüttelte der Bischof mehrmals mit dem Kopfe.
„So! Jetzt sitzt sie!“ meinte er in zufriedenem Ton zu Julian. „Wollen Sie einmal ein wenig zur Seite gehen?“
Mit raschen Schritten ging er in die Mitte des Saales. Dann schritt er langsamen Ganges wieder auf den Spiegel zu, zog sein grämliches Gesicht von vorhin und erteilte würdevoll den Segen.
Julian rührte sich nicht vor Staunen. Er ahnte den Sinn des Vorganges, traute aber seiner Vermutung nicht recht. Der Bischof blieb stehen und schaute ihn an. Sein Gesicht verlor rasch den Ausdruck der Würde.
„Was sagen Sie zu meiner Mitra?“ fragte er Julian. „Sitzt sie gut?“
„Sehr gut, Monsignore!“
„Sitzt sie nicht zu weit nach hinten? Das sähe töricht aus. Hinwiederum darf man sie auch nicht zu tief ins Gesicht drücken wie einen Offizierstschako.“
„Meiner Meinung nach sitzt sie vorzüglich!“ wiederholte Julian.
„Majestät ist ehrwürdige und unbedingt ernste Geistliche gewöhnt. Ich möchte nicht kokett aussehen; gerade, weil ich jung bin, nicht.“
Dabei setzte sich der Kirchenfürst von neuem in Bewegung, wiederum Segen spendend.
„Es ist klar“, sagte sich Julian, der endlich zu verstehen wagte. „Er übt sich im Segnen.“
Nach einigen Augenblicken erklärte der Bischof: „Ich bin fertig. Gehen Sie voran, Herr Abbé, und geben Sie dem Herrn Dekan und den Herren vom Kapitel Bescheid!“
Alsbald trat der alte Chélan, gefolgt von den beiden nächstältesten Pfarrern, durch eine große, prächtig geschnitzte Pforte ein, die Julian bisher nicht bemerkt hatte. Seinem Rang entsprechend schloß er sich dem in den Saal dringenden Schwarm der Geistlichkeit als Allerletzter an und konnte den Bischof nur noch über die Schultern der andern sehen.
Der Bischof schritt ihnen langsam entgegen. Jetzt traten die Geistlichen zur Prozession an. Einen Augenblick lief alles durcheinander. Dann setzte sich der Zug unter Anstimmung eines Psalms in Bewegung. Der Bischof, zwischen dem Pfarrer Chélan und einem andern älteren Geistlichen, folgte dem Klerus. Dicht hinter dem Bischof schritt Julian als Subdiakon Chélans. Der Zug ging durch die langen Gänge der Abtei, die trotz des einfallenden Sonnenscheins düster und dumpfig waren. Endlich erreichte man die Vorhalle des Kreuzgangs.
Julian war tief ergriffen von der schönen Feier. Sein angesichts des jugendlichen Kirchenfürsten von neuem lodernder phantastischer Ehrgeiz und das feine vornehme Wesen des Kardinals stritten sich um sein Herz. Solche Urbanität war doch etwas andres als die Leutseligkeit des Herrn von Rênal, selbst wenn er seinen guten Tag hat. „Je höher man die Stufenleiter der Gesellschaft emporsteigt, desto mehr findet man so entzückende Manieren“, sagte sich Julian.
Die Prozession zog durch ein Seitenportal in die Kirche. Plötzlich durchhallte das altertümliche Gewölbe ein fürchterlicher Lärm. Julian wähnte, es stürze ein. Wiederum war es die alte Kanone, die draußen, von acht Pferden gezogen, eben im Galopp in Stellung gegangen war und auch schon durch die Kanoniere von Leipzig abgeprotzt worden war. Sie gab ihre fünf Schuß in der Minute ab, als stünden drüben die Preußen.
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