Ich versuche mich zusammenzureißen, zittere am ganzen Körper, kann es nicht stoppen. »Er hat auf mich geschossen!« stammle ich.
»Er hat danebengeschossen«, sagt sie, »er hat bestimmt nur die Wand getroffen, und da ist der Splitter rausgebrochen.«
Ich sehe es wie in Zeitlupe, die Kugel, die Zentimeter vor meinem Gesicht entlangpfeift, in die Holzverkleidung einschlägt, den Splitter, der sich in meine Backe bohrt. Das Heulen und Zittern will nicht aufhören, alle Nerven mit dem Schuß zerfetzt, die Kugel zentimeterdicht vor dem Kopf.
Lui wischt mir wieder über die Backe. »Da«, sagt sie ärgerlich, »blutet schon gar nicht mehr. Jetzt reiß dich zusammen, es ist nichts passiert!« Dann lässt sie mich einfach alleine sitzen, zieht die Tür hinter sich zu.
Ich lege mich auf dem Bett zurück, presse das Taschentuch gegen die Backe und atme, warte, bis das Zittern allmählich nachlässt.
Christine hätte mich getröstet, mütterlich, emanzipiert mütterlich, hätte mit mir geweint, mir dann versichert, wie toll es ist, dass ich als Mann so weinen kann, und mich damit wohl genauso alleine gelassen.
Draußen höre ich Lui mit dem Opa rumgiften. »Ich nehm dir
jetzt dein Gewehr weg, ich hab’s dir das letzte Mal schon gesagt!«
»Ich hab immer mein Gewehr gehabt«, schreit er, »das kriegt ihr nicht, auch du nicht, da musst du mich umbringen, das kriegst du nicht!«
»Du kannst nicht auf jeden schießen, der hier die Treppe hochkommt, kapier das doch!«
»Der hätte ja Meldung machen können, ich dachte, die wollten mich holen. Wenn die kommen, sind die dran.«
»Niemand kommt dich holen, Opa«, sagt Lui nun leiser, »sei jetzt still, es kommt niemand dich holen.«
Nach einer Weile geht die Tür wieder auf. »Hast du dich jetzt ausgeheult?«
»Du bist gut«, sage ich, »der Idiot schießt mir fast eine Kugel durch den Kopf, und du fragst, ob ich mich ausgeheult habe.«
»Ich kann Männer nicht ausstehen, die heulen«, sagt sie trocken, »zeig mir noch mal deine Backe!« Sie zieht mich ins Licht unter das Fenster, wischt drüber. »Komm mit, wir waschen’s mal richtig ab – es ist wirklich nur ein Kratzer.«
Ich folge ihr raus zum Waschbecken auf dem Gang. Der alte Mann sitzt regungslos in seinem Sessel und sieht uns beleidigt nach.
Sie wischt mir mit einem nassen Lappen übers Gesicht, zerrt mich vor den Spiegel. Es ist wirklich kaum der Rede wert, ein Kratzer.
»Und kein Wort zum Vater«, sagt sie dann fast drohend, als wir wieder im Zimmer sind, »der bringt ihn sonst ins Heim, kapiert?«
»Aber ...«
»Kapiert?!«
Ich nicke. »Also gut.«
Gerade noch Gift in ihren Augen, und dann, plötzlich, wieder die andere Lui. Sie schlingt ihre Arme um mich, wie ein weiches Kissen spüre ich den Anprall ihres Körpers. »Danke«, sagt sie, gibt mir einen feuchten Kuss, flüchtig nur, aber doch viel zu viel für ein Dankeschön.
»Tut’s noch weh?« sagt sie. »Komm, ich sing dir was vor.« Damals habe ich es zum ersten Mal gehört. Plötzlich wusste ich, woher ich diese tiefe, raue Stimme kannte, plötzlich verstand ich meine Gänsehaut, wenn sie sprach.
Sie sang: »Oh Lord , won’t you buy me a Mercedes Benz, my friends all drive Porsches, I must make amends ...«
An der Stelle brach sie ab, fragte mich, als sähe sie mein Erstaunen nicht: »Was heißt das, 'make amends', kein Mensch weiß das.«
Ich zuckte die Schultern. »Woher hast du das?« fragte ich. »Weißt du überhaupt, von wem das ist?«
»Klar«, sagte sie, »das ist Janis Joplin. Ich hab die Platte von Manta. Manta sagt, ich singe wie Janis Joplin.« Sie ging zur Tür. »Also, ich muss wieder runter, hab noch zu tun.«
Sie ließ mich zurück mit ihrer Stimme im Raum. Alles war so irreal. Ich singe wie Janis Joplin, sagte sie ganz gelassen, und der Wahnsinn war, es stimmte, sie sang wie Janis Joplin – schon damals mit sechzehn.
Mein Bild von ihr wurde immer gefährlicher. Ich begann die Kontrolle zu verlieren, das machte es gefährlich. Vielleicht hatte ich die Kontrolle längst verloren.
Es wurde eine unruhige Nacht, so viele Fetzen, die in meinem Kopf herumflogen, wilde Träume von Schüssen und Küssen, ihre Beine, ihr Bauch, ihre Augen, ihr Busen. Träume von wildgewordenen Stadtkindern und Kühen im Bach, von einem grauen Herrn in einem Diplomat V8, Holzsplitter, die tödlich verletzen, zerfetzen, dann plötzlich das Gefühl eines anderen Körpers auf mir, Luis Körper, weg mit dem nächsten Lidschlag.
Von drüben drang das Stöhnen und Schnarchen des Alten herüber, im Lauf dieser ersten Woche hatte ich mich schon fast dran gewöhnt. Manchmal hörte ich ihn aufstehen, hörte ihn hin und her gehen, Worte murmeln, dann warf er sich wieder krachend ins Bett. Meine Drittklässler fielen mir ein, jetzt waren sie es, die mich vom Schlafen abhielten. Mitternacht ging vorbei, und ich schlief noch immer nicht, zählte die Sterne in dem kleinen Rechteck, den das Fenster aus dem Himmel herausstanzte, verzählte mich, merkte, wie sich der Himmel langsam verschob, wie einige Sterne links verschwanden, andere rechts in mein Blickfeld rutschten.
Ich war gerade am Einschlafen, da wurde der Alte wieder unruhiger, aus dem Stöhnen, Schnarchen und Brabbeln hinter seiner Tür waren einzelne Worte herauszuhören. »Mitkommen«, verstand ich einmal ganz deutlich, »alle mitkommen, los!« Dann: »Schießen, schießen, schießen!«, danach war wieder alles still, ich drehte mich auf die Seite, um endlich Ruhe zu finden, aber da ging es erst richtig los. Jetzt grummelte und brabbelte er nicht mehr, er schrie, schrie wie am Spieß, wie einer, der Schaum vor dem Mund bekommt, dem die Augen raustreten. »Raus da, raus da, raus da! Ihr Schweine. Macht, dass ihr da rauskommt!«
Er wurde immer lauter, seine Stimme schnappte über, es klang, als triebe er eine Herde vor sich her, immer wieder »Alle raus da«, bis nichts mehr zu verstehen war, nur noch ein bestialisches, furchterregendes Brüllen, das all meinen Mut, rüberzugehen und ihn zu beruhigen, im Keim erstickte. Ich dachte an sein Gewehr und zog mir die Decke über den Kopf, bereit abzuwarten, bis er von alleine aufhören würde, und wenn es erst am Morgen wäre.
Aber dann wurde unten die Tür aufgerissen. »Opa, Opa!« Es war Lui. Sie stürmte die Treppe hoch, anscheinend schüttelte sie ihn. Drei-, vier-, fünfmal klatschte es, dann war plötzlich
Ruhe. Heftiges Atmen nur noch, Schluchzen, Weinen, Wimmern, dazu ihre Stimme.
»Ist gut, Opa, war nur ein Traum, schläfste wieder ein. Nimmste noch ’nen Schluck Bier und schläfst wieder. Ist alles in Ordnung, niemand will dich holen, kein Mensch. Trinkst noch ein Bier und schläfst wieder.«
Das Wimmern wurde leiser. Sie redete auf ihn ein, bis sein Schluchzen in gleichmäßiges Schnarchen übergegangen war. Dann hörte ich ihre Schritte über die knarzenden Bodendielen. Sie ging aus seinem Raum, zog leise die Tür zu, schlich über den Gang, blieb vor meiner Tür stehen. Nach dem Gebrüll der letzten Viertelstunde war alles unwirklich ruhig. Ich spürte sie mehr vor meiner Tür, als dass ich sie hörte, wartete, dachte schließlich, sie sei vielleicht doch schon fort, glaubte dann wieder ihren Atem zu hören, vielleicht war es auch meiner, oder mein Herzschlag.
Zweimal holte ich Luft und hielt mich doch selbst zurück, beim dritten Mal wollte ich mich nicht mehr wehren. »Ich bin wach«, sagte ich leise.
Die blankgewetzte Messingklinke senkte sich, dann quietschte die Tür. Sie stand im Raum, barfuß, nur mit einem dünnen Nachthemd über dem Körper. »Hast du alles mitgekriegt?« fragte sie, und ohne eine Antwort abzuwarten: »Tut mir leid, er hat das ab und zu – hattest du Angst?«
»Es ist nicht gerade das, was ich mir nachts um eins wünsche.«
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