Ich lief noch ein bisschen zwischen den Schülertischen durch, versuchte mir vorzustellen, was ich da vorne für ein Bild abgab. Fragte mich plötzlich, ob wohl Lui hier gesessen hatte. Dahinten vielleicht, die ganze Klasse vor sich. Dann sah ich mich plötzlich selber, ich setzte mich auf einen der kleinen Stühle, quetschte die Beine unter den Tisch. Klein muss ich gewesen sein damals. Lietzenbach fiel mir ein. Oberlehrer Lietzenbach. Ich wurde unruhig, dann spürte ich Angst, alte Angst.
Oberlehrer Lietzenbach gibt Schönschreiben. Karl-Dietrich kann aber nicht schön schreiben.
»Zeig dein Heft vor, wo sind deine Hausaufgaben?« Karl-Dietrich schaut auf den Boden. Er wartet auf das erlösende Klingeln. Er hört, wie Oberlehrer Lietzenbach sein Heft zum Pult trägt, hört das kurze, harte Kratzen des Rotstifts. Er schaut nicht auf. »Das ganze noch mal!«
Das war 1967. Von da an, zwei Jahre lang, die ganze dritte und vierte Klasse hindurch, hieß mein Alptraum Lietzenbach. Friedrich-Rückert-Schule in Bochum. Lärmendes, stinkendes, vertrautes Bochum. Zwei Kilometer Fußmarsch über gepflasterte Bürgersteige, den schwarzen Lederranzen auf dem Rücken. Entlang an grauschwarzen Reihenhäuschen, aus deren Schornsteinen, als müßten sie mit den großen Stahlschloten mithalten, graubrauner Rauch kräuselte. Grauschwarze Häuser, die Straßen graubraun, die Bäume graugrün, selbst frischgefallener Schnee nach einer Nacht hellgrau, nach zwei Nächten grau wie die monochrome Einöde drum herum. Und wenn ich zur Schule ging, zwei Kilometer mit dem Lederranzen, zertrat ich jeden grauen Schneehaufen, nur um das Weiß darunter zu sehen.
Zu Hause gab es eine Familie. Der Vater trug, wenn er morgens Punkt sieben Uhr fünfzehn das Haus verließ, einen grauen Anzug, eine silbergraue Krawatte und eine schwarze
Aktentasche. Er schloss die Tür des dunkelbraunen Admiral auf und fuhr ins neue Opelwerk. Er hatte eine Stoppuhr und einen Notizblock und sorgte dafür, dass das neue Fließband mit den neuen Kadetts darauf nicht langsamer wurde.
Abends, oft spät, wenn ich schon im Bett lag, hörte ich den Vater kommen, seinen Mantel ausziehen, stöhnen. Ich hörte einen flüchtigen Kuss für die Mutter, oft hörte ich Streit.
Ab und zu fuhren wir am Wochenende mit dem frischgewaschenen Admiral über Land. Vater fuhr gerne Auto, Mutter wäre lieber gewandert, also stritten sie wieder. Wir saßen in dem riesigen Wagen hinten. Gabi, meine Schwester, und ich. Jeder guckte zu seiner Seite aus dem Fenster, Gabi kaute Kaugummi, und zwischen uns war eine breite Armlehne, die wir immer heruntergeklappt hatten.
»Wenn ich mich etwas anstrenge, bekomme ich nächsten Sommer einen Diplomat V8«, sagte Vater, und Mutter drehte die Augen zum Himmel.
Als ich endlich ins Gymnasium durfte, weg vom Tyrannen Lietzenbach, hatte Vater seinen Diplomat. Der lief fast zweihundert, und Vater kam abends noch später nach Hause. Er war jetzt der Chef aller Männer mit Stoppuhr. Mutter saß derweil zu Hause, half uns bei den Hausaufgaben, bügelte oder ging einkaufen. Manchmal war ich dabei. In den Geschäften redete sie anders als zu Hause. Sie sagte nicht »Servus« und »Pfürtie«, sondern »Guten Tach« und »Schönen Tach noch« und versuchte so zu sein wie die anderen Frauen aus dem Pott. Und wie immer, wenn ich an Bochum denke, wenn ich an Vater denke, tauchte eine Szene auf:
Die Familie fährt nach München, die Oma besuchen. Der Vater ist nicht dabei, und Karl-Dietrich fährt zum ersten Mal im Leben eine lange Strecke mit der Bahn. Sie gucken zum Fenster hinaus, sehen Berge, grüne Bäume, Häuser aus Holz mit leuchtendroten Dächern. Mutter fragt Karl-Dietrich und
Gabi, ob sie nicht auch viel lieber hier bleiben wollen, bei Oma im Haus, oben, in den vier Zimmern, ohne graubraune Straßen und graugrüne Bäume.
»Und der Papa?« fragt Karl-Dietrich.
»Die wollen sich scheiden lassen, Mensch, bist du zu blöd, um das zu kapieren!« schreit Gabi und rennt aus dem Abteil.
Ein halbes Jahr später wohnten wir in München. Von Papa kam regelmäßig Geld an Mutti und unregelmäßig ein Brief an mich, wo er schrieb: Schick mir doch einmal ein neues Bild, und manchmal lagen zehn Mark im Umschlag. Erst Jahre später – ich war schon sechzehn und durfte alleine reisen – sah ich ihn in Bochum wieder. In meiner Erinnerung wurde sein Bild grau und grauer, bis es sich nicht mehr von der Umgebung abhob.
Plötzlich gongte es, sanft und angenehm, kein Vergleich mit der Welt aus schrillen Klingeln, in die ich abgerutscht war. Ich schaute raus auf das Feld vor der Schule, die flimmernde Hitze über den sattgelben Getreidehalmen löste die Gesichter auf, den cholerischen Oberlehrer Lietzenbach, den grauen Vater, die nörgelnde Mutter, die ewig kaugummikauende Schwester. Die Gegenwart war ein Schulschlüssel in meiner Tasche: Klassenlehrer Weber.
Die Hitze draußen machte dösig wie ein mittägliches Glas Pils. Leute grüßten mich über Zäune weg, als ich durchs Dorf schlenderte, fremde Leute, die ich nie zuvor gesehen hatte. Klassenlehrer Weber, eine Respektsperson. Als ich auf der Höhe der Kirche war, begannen die Glocken Mittag zu läuten. Schwer schwangen sie hin und her, unregelmäßig schlugen die Klöppel an, bis sie ihren Takt gefunden hatten, Interferenzen dröhnten zwischen den Häusern, eine zähe Klangflüssigkeit, die die Hauptstraße hinunterquoll. Gemischt mit Hitze und
Staub, schwappte sie in jeden Hof, erreichte jedes Haus, wurde schrill gesteigert durch den Sirenenton der Fabrik – jeder bekam die Nachricht aufgedrängt, dass es Zeit war für den Mittagstisch.
Hippie sprang mich schwanzwedelnd im Hof an, in der einen Woche hatte er es zu Agathes Butler gebracht, war der Zweithund auf dem Reustenhof geworden. Agathe ließ jetzt die Besucher durch Hippie melden, erst wenn ernste Schwierigkeiten auftraten, kam sie tief bellend und knurrend aus ihrer Hütte, um Ordnung zu schaffen. Nur nachts, wenn der Hof von merkwürdigen Geräuschen erfüllt war, ging Hippie lieber mit mir, legte sich unter mein Bett und wiegte mich mit seinem Schnarchen in den Schlaf.
Ich könnte jetzt tatsächlich ein Bier trinken, dachte ich, mir einen Stuhl vor mein Häuschen stellen und mich in die Sonne setzen. Ich umkurvte das Gerümpel vor dem Haus, drückte langsam die alte Tür auf, sie quietschte, ich dachte mir nichts Böses dabei, auch nicht, als ich oben ein paar eilige Geräusche hörte. Öffnete noch die Tür zu meiner neuen Stube, langsam wird’s sauber da drin, dachte ich, ein, zwei Wochen noch, dann kann ich nach unten ziehen, stieg dann ahnungslos, fast ein bisschen zufrieden und glücklich die Treppe hoch.
Der Knall, der Blitz, der Schmerz, ich spüre und höre alles im gleichen Moment, bin sekundenlang sicher, tot zu sein, finde mich dann, halb sitzend, halb liegend, auf der Treppe, über mir, im oberen Stockwerk, breitbeinig der Alte, ein Sturmgewehr im Anschlag, bereit, auch noch einen zweiten Schuß auf mich abzugeben.
»Halt, oder ich schieße! Halt, oder ich schieße!« brüllt er immer wieder, ich spüre Blut meine Backe runterlaufen, zittere, schreie: »Ich bin’s doch, Opa Alfred, ich bin’s doch!«
»Ach so – ja«, sagt er in plötzlichem Erkennen, nimmt sein Gewehr runter und schlurft wortlos in sein Zimmer zurück.
Einen Moment später fliegt unten die Tür auf, Lui kommt reingestürzt. »Was ist los, Opa, verdammt, was hast du wieder angestellt!«
Sie zieht mich hoch, bringt mich in ihr Zimmer, ich bin noch immer wie gelähmt vor Schreck und bringe kein Wort raus, fange nur an zu heulen, als ich endlich in Sicherheit bin. »Zeig mal her«, sagt sie, nimmt mir die Hände von der Backe, wischt mit einem Taschentuch drüber, lacht und zieht dann mit einem beherzten Ruck einen streichholzkleinen Holzsplitter heraus. »Hier«, sagt sie, hält mir das Ding unter die Nase, »das war alles. Es ist gar nichts passiert.«
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