Der Körper des Großkhan lag also zweifellos im Sterben. Der Geruch des herannahenden Todes war für jede Person offenkundig, die ihn betreute oder die Jurte betrat. Der Geist des Reichsgründers war jedoch nicht tot - und lag auch sicher nicht im Sterben. Temudschin war sich bewusst, dass sein Körper darum kämpfte, am Leben zu bleiben. Er war sich der Männer bewusst, die ruhig in der Nähe saßen - einige von ihnen waren seine Söhne, andere enge und zuverlässige Freunde, wieder andere einfach nur Freunde und einigen von ihnen konnte er keinesfalls vertrauen.
Er konnte hören, wie sie leise die Pläne besprachen, in denen er sorgfältig und genau festgelegt hatte, was im Falle seines Todes zu geschehen hatte. Mitunter stritten sie auch gedämpft. Bis ins Detail hatte er seine Befehle dargelegt: wie seine Armeen aufzustellen waren, wie seine Schätze aufgeteilt werden sollten, wie die Führung des Reiches auszuüben war und wie seine Expansionspläne weitergeführt werden sollten. Was gab es also zu diskutieren und zu streiten? Jedenfalls war das für ihn nicht mehr wichtig. Er nahm die Jurte wahr, deren Wände mit Teppichen aus Seide geschmückt waren und die mit wertvollen Gegenständen aus den eroberten Städten seines Reiches übersät war. Er war sich auch, fast schmerzhaft, bewusst, was er noch alles hatte erreichen wollen. Es gab so viele Dinge zu lernen, zu sehen, zu leisten, wenn die Schlachten erst einmal vorüber waren. Er war sich auch, fast genüsslich, bewusst, wie weit er gekommen war …
Temudschin war am Oberlauf des Flusses Onon in der Nähe des heiligen Berges Burchan Chaldun als Mitglied des Klans der Borjigin geboren worden und gehörte damit dem Volksstamm der Mongolen an. Sein Vater gab ihm den Namen Temudschin, was „der Eisenarbeiter“ bedeutete. Im Stillen lächelte Temudschin über all die falschen Geschichten, die über die Bedeutung und den Zweck seines Namens in Umlauf gebracht worden waren, um das heilige Wissen seiner Abstammung zu schützen, nachdem sein Vater, Yesugai, getötet worden war und er mit seiner Mutter und seinen Geschwistern aus dem Klan verstoßen worden war.
Eine der Geschichten erzählte, er sei nach einem Tatarenführer benannt worden, den sein Vater angeblich in einer Schlacht gefangen genommen hatte. Als ob so etwas je vorgekommen wäre. Nach dem Anführer eines feindlichen Klans benannt zu werden? Und wie hätte dann diese Geschichte die Namen seines Bruders, Temulin, und seiner Schwester, Temuge, erklärt? Wäre demnach sein Vater erneut ausgezogen, um weitere Tatarenführer zu fangen, nur damit er Namen für seine Kinder hatte?
Nein, seine Herkunft ging auf die Darkhanboo zurück, auf die weisen schamanischen Schmiede, die sich darauf spezialisiert hatten, rituelle Werkzeuge für Geisterschlachten und Heilungsrituale, aber auch die alchemistischen Rezepturen der heiligen und hochgeheimen Zubereitung der magischen Arshaan herzustellen, der Elixiere des Lebens, der Gesundheit, der Stärke und der Potenz.
Er, sein Bruder und seine Schwester waren auserkoren, dieser Tradition zu folgen, aber all das hatte sich geändert, als die Tataren seinen Vater in einem tödlichen Akt des Verrats vergiftet hatten.
Obwohl der neunjährige Temudschin Anspruch auf die Nachfolge in der Position als Anführer des Klans erhoben hatte, wollten sich die Borjigin nicht von so einem kleinen Kind führen lassen. Also wurden er, seine Schwester, all seine Brüder und seine Mutter vom Stamm seines Vaters ausgesetzt. Sie mussten sehen, wie sie in der Wildnis mit Früchten und Wildtieren überleben konnten.
Das waren harte Zeiten gewesen damals. Sehr gefährliche Zeiten. Um das Überleben seiner Familie zu sichern, war er sogar gezwungen gewesen, mit seinem Halbbruder Bekter zu kämpfen und ihn schließlich zu töten, weil dieser ihnen nach einer Jagd alle Nahrung entreißen wollte. In diesen schweren Zeiten entwickelte Temudschin seinen unstillbaren Drang nach Ausdehnung, nicht nur durch einen gewissen Durst nach Rache beflügelt, sondern mehr noch durch den Wunsch nach der Erweiterung seines Wissens, seines Aktivitätsradius, seines Seins.
Nun dachte der Geist von Temudschin darüber nach, dass dieser Drang der Faktor war, der zur Stärke seines Hiimori, seines „Windpferdes“ oder seiner persönlichen spirituellen Kraft, beigetragen hatte, das ihn durch so viele Gefahren getragen und ihm so viele starke Männer zugeführt hatte … und Frauen.
Ja, die Frauen, sinnierte sein Geist. Er dachte an Borte, seine erste Frau. Er war mit ihr verlobt worden, als er neun Jahre alt gewesen war, mit der Absicht, sie im Alter von zwölf Jahren zu heiraten. Aber aufgrund der Turbulenzen konnte die Hochzeit erst stattfinden, als er sechzehn war. Schließlich wurde sie die Große Kaiserin des Reiches, die Mutter seiner Erben, seine zuverlässige Beraterin und seine wahre Liebe. Natürlich war sie nicht die einzige Frau, die er liebte, aber die einzig wahre Liebe. Sie war bereits in das Reich der Ahnen vorausgegangen. Er wusste, dass er ihr bald folgen würde.
Dann beschäftigten sich seine Gedanken einige Zeit lang mit einer raschen Abfolge von Bildern und Zusammentreffen mit anderen Frauen, schönen Frauen jeden Alters, jeder Hautfarbe und jeder Größe, manche Erinnerungen angenehmer als andere. Er musste in sich hineinlachen, als ihm eine Feststellung in den Sinn kam, die ihm zugeschrieben wurde. Sie stammte nicht wirklich von ihm, er wünschte sich aber geradezu, dass er darauf gekommen wäre: „Das größte Glück ist es, deine Feinde zu bezwingen“, sollte er gesagt haben, „sie vor dir herzujagen, ihnen ihren Reichtum zu nehmen, ihre Lieben in Tränen zu sehen und ihre Frauen und Töchter an deinen Busen zu drücken.“
Feinde. Er folgte nun diesem Gedankengang. Die mistfressenden Bjartskular fielen ihm zuerst ein. Früher einmal waren sie Verbündete seines Vaters gewesen. Dann hatten sie ihn während eines Überfalls gefangen genommen, als er zwanzig Jahre alt war, hatten ihn als Gefangenen gedemütigt, ihn als Sklaven gehalten und ihn Gewänder tragen lassen, die für Frauen gemacht waren. Ein Gefühl der Genugtuung überkam ihn, als er sich an die Nacht seiner Flucht erinnerte. Dank eines wohlgesinnten Wachmanns, dem seine Behandlung zu hart erschien und der sich im entscheidenden Augenblick abwendete, konnte Temudschin in der Dunkelheit flüchten und sich zwischen den Felsen an der Krümmung eines nahe gelegenen Flusses verstecken. Der Wachmann selbst schlug dann Alarm, die Krieger der Bjartskular suchten die ganze Nacht bei Fackelschein nach ihm. Erfolglos.
Am nächsten Morgen suchten sie erneut nach ihm, konnten aber sein Versteck zwischen den Felsen und dem Schilf im Wasser trotzdem nicht finden. Er blieb dort bis tief in die nächste Nacht, kroch dann davon und kehrte über die Steppe zu seinem eigenen Stamm zurück. Diese Flucht trug erheblich zu seinem Ruf als genialer Anführer bei.
Seine Gedanken sprangen von den Bjartskular weiter zu den Tanguten, die er schließlich besiegt hatte. Nur weil sie seine Herrschaft nicht akzeptieren wollten, hatte er mit ihnen sechs Kriege ausgefochten. Und nach ihrer Niederlage rebellierten sie stur immer wieder, wann immer er sich anderen Dingen widmen wollte. Jetzt nicht mehr! Nun, da er die gesamte kaiserliche Nachkommenschaft der Tanguten ausgerottet hatte, sollten seine Söhne keine weiteren Probleme mit ihnen haben.
Dieser letzte Krieg mit ihnen, er bemerkte, dass es der letzte Krieg seines Lebens war, hatte länger als ein Jahr gedauert, obwohl seine Krieger sie in jeder Schlacht geschlagen hatten. Das lag zum großen Teil an der kämpferischen Führung durch den General, Ma Jianlong, der einfach nicht aufgeben wollte. Diesem Mann konnte man wirklich Respekt entgegenbringen. Wenn er ihn nur hätte überzeugen können, sich den Kräften des Khans anzuschließen, hätten sie gemeinsam Großes leisten können. Andererseits, musste sich Temudschin eingestehen, war es gut, dass der General bei Deshun an seinen Wunden gestorben war.
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