Das alles und noch vieles mehr erzählte Ali Vera, wenn sie sich heimlich trafen. Denn es war eine merkwürdige Art von Beziehung zwischen den beiden entstanden.
Die Fahrräder waren bald repariert und niemandem in Veras Familie war aufgefallen, dass ihr Vorderrad kaputt gewesen war. Doch sie hatte Ali danach wiedersehen wollen und ihn ganz direkt nach seiner Mobilnummer gefragt, was diesen heftig verwirrt hatte. Denn dass ein Mädchen die Initiative ergriff, kam in seinem Umfeld einfach nicht vor. Mädchen hatten schön brav zu Hause zu bleiben und zu warteten, bis sie an der Reihe waren und verheiratet wurden.
Aber bei Vera war für Ali alles anders. Er freute sich darauf, mit ihr zusammen sein zu können und mit ihr einfach nur zu plaudern.
So saßen sie in den Ferien einfach Nachmittage lang zusammen am Elbstrand und unterhielten sich. Vera erzählte von ihren Medizinplänen und Ali träumte davon, Schiffsoffizier zu werden. Naschmittags hatte er Zeit, denn sein Vater hatte ihn zur Auslieferung an die Filialen in den Morgenstunden eingeteilt, und da gab es ab späten Vormitttags nichts mehr zu tun. Alis Vater zeigte Verständnis, wenn sein Sohn nicht die ganze Zeit mit der Bäckerei zu tun haben wollte, das würde schon noch kommen, dachte er.
Ein seltsamer Zauber hielt die beiden umfangen und das Herzklopfen, dass sie immer deutlicher spürten, wenn sie sich trafen, wollten sie so genau nicht deuten. Es blieb alles offen und unbestimmt, aber die Abstände ihrer Treffen wurden immer kürzer. Aber beide vermieden das Thema, wie es mit ihrer Beziehung weitergehen solle und gestanden sich ihre Verliebtheit noch nicht ein.
Ali hatte das Gymnasium verlassen müssen, aber zum mittleren Schulabschluss, wie die mittlere Reife in Hamburg genannt wurde, hatte es gereicht. Die Lehrer wollten keine Türken haben, war seine feste Meinung. An ihm könne es nicht gelegen haben, er hatte ja sehr gute Noten in Deutsch, die haben die anderen Jungs mit Migrationshintergrund alle nicht gehabt. Aber alle fünf hatten gehen müssen, bei ihm war es wegen Mathe, Physik und Chemie gewesen. Das sind ja alles nur Nebengegenstände meinte Ali verächtlich.
In diesem Punkt konnte ihn Vera mit ihrem Notenschnitt von 1,2 nicht verstehen. Lernen war für sie das halbe Leben und sie begriff seine Einstellung überhaupt nicht, ließ ihn aber bei seinen Ansichten.
Ali meinte, das Abitur ja einmal in der Abendschule bei Bedarf nachholen zu können, aber für den Seeoffizier bei der Handelsmarine reiche auch die mittlere Reife, das wisse er. Ali war der erste seiner Familie, der die mittlere Reife geschafft hatte, was er nicht oft genug betonen konnte.
*
Hassan, Alis Vater hatte vor einem Jahr ein altes kleines Siedlungshäuschen irgendwo nördlich der Osdorfer Landstraße gekauft. Er wollte raus aus dem türkischen Viertel hinter dem Hauptbahnhof. Er wollte gesellschaftlich aufsteigen, da er ja inzwischen ein erfolgreicher Unternehmer war.
Jetzt waren sie die einzige türkische Familie in ihrer Gasse, und Ali musste mit dem Bus weit fahren, wenn er seine alten Freunde treffen wollte. Früher hatten sie alle in derselben Straße gewohnt. An ihrer neuen Adresse kannten sie niemanden näher, auch nach einem Jahr gab es nur einige oberflächliche Bekanntschaften. Die Leute waren zwar alle freundlich, aber distanziert und es kam keine Herzlichkeit auf.
Hassan vermisste sein türkisches Cafe am Hansaplatz, gleich um die Ecke zu seiner alten Wohnung. Jetzt war das nächste Lokal, wo Türken verkehrten, zwei Kilometer von seinem Haus weg. Aber es war OK, sie hatten jetzt ein Haus mit einem kleinen Garten und Hassan durfte sich stolz als Aufsteiger fühlen.
Seine Frau hatte zu allem ja gesagt, und dem kleinen Bruder von Ali war es auch egal, dem gefiel einfach der Garten, wo Mutter begonnen hatte, Gemüse zu ziehen. Zum Ausgleich ging Hassan jetzt wieder öfter in die Moschee zum Freitaggebet. Da konnte man danach Tratsch und Klatsch austauschen und manchmal auch interessante Gespräche führen.
So war der Sommer rasch vorangeschritten und bald begann wieder die Schule. Vera würde dann keine Zeit mehr haben, Ali so häufig zu treffen. Wie sollte es mit ihrer Beziehung weitergehen.
Bisher hatte Ali keinerlei Annäherungsversuche gemacht. Er hatte ihr sogar gestanden, dass er sich noch nie mit einem Mädchen getroffen hatte. Das gäbe es bei Muslims so nicht, da würden die Eltern aufpassen und heimliche Treffen, die gingen gar nicht. Aber bei ihr sei das wohl etwas anderes, denn sie sei ja keine Muslima. Sie habe da mehr Freiheiten, wie Ali fast ein wenig neidisch einräumen musste.
Auch Vera hatte sich bisher nicht viel aus Jungs gemacht, nur einige kleinere Flirts, allesamt völlig harmlos und ansonsten war sie ihrem Ruf als Streberin und Sportlerin gerecht geworden, die anderes im Kopf hatte, als Jungengeschichten.
Aber nun war alles ganz anders und sie wartete darauf, dass Ali endlich versuchen würde, sie zu küssen. Doch dazu war Ali viel zu wohlerzogen und konservativ. Zuerst müsse er sie seinen Eltern vorstellen, und damit das möglich werde, müsse er zuerst einmal zu Hause erzählen, dass es hier überhaupt ein Mädchen namens Vera gäbe.
Bei Vera lag der Fall ähnlich, Anke hatte von der Existenz von Ali keine Ahnung. Sie dachte, Vera sei jetzt oft mit Freundinnen unterwegs, hatte aber selber wenig Zeit, denn alle Leute wollten ständig etwas von ihr. Es gab den Wohltätigkeitsbasar zu organisieren, in der Flüchtlingshilfe war sie aktiv, die kirchliche Gemeinde verlangte ihren Arbeitseinsatz, nur die eigene Tochter kam im Terminplan kaum vor, aber die war ja schon fast erwachsen und brauchte ihre Mutter ja kaum mehr, dachte Anke, wenn sie von einem Termin zum nächsten hetzte.
Und Georg, ihren Vater, sah Vera in diesen Wochen kaum. Er war fast ständig im Ausland unterwegs, um ein großes Projekt voranzubringen, das heuer unbedingt noch fertig werden musste. Sonst bekam die Konzernleitung die Krise, was übersetzt hieß, sein Bonus war für dieses Jahr ernstlich gefährdet.
So hatten Vera und Ali viel Zeit gehabt, gemeinsam die Elbstrände entlang zu spazieren und sich Geschichten aus ihrem Leben zu erzählen.
Doch in der letzten Ferienwoche geschah es.
Ali hatte Vera in die Innenstadt zur Binnenalster eingeladen und dabei ganz feierlich gewirkt. Er hatte sich auch besser angezogen als sonst, Vera hatte ihn noch nie im Jackett gesehen.
Nun saßen sie beide im Alsterpavillon bei einem Eis und Vera sah Ali erwartungsvoll an. Dieser wirkte seltsam verlegen und wusste nicht so recht, wie er beginnen sollte.
Schließlich gab er sich sichtbar einen Ruck und begann umständlich zu erklären, seine Eltern wüssten nun, dass es Vera gäbe und dass er möchte, dass die Sache eine Zukunft habe.
Seine Eltern seien sehr erfreut gewesen, und hätten keine Einwände gehabt, denn zu einem rechten Mann gehöre einmal eine rechtschaffene Frau. Das Letzte sagte Ali wohlweislich nicht zu Vera.
Er sagte ihr stattdessen, dass es ihm ernst sei und er sie liebe. Dabei sah er ihr tief in die Augen.
Vera begriff sofort, dass er es ernst meinte. „Ich bin ja erst sechzehn“, war ihre Antwort.
„Das ist doch genau das richtige Alter“, entgegnete Ali, „da bist du doch schon erwachsen.“
Sie liebte Ali schon auch, aber sie hatte das Gefühl, dass das hier plötzlich viel zu schnell ging.
Ali redete auch schon weiter, dass jetzt das Wichtigste sei, dass sich ihre Eltern einmal kennenlernen können. Denn ohne Eltern sei das ja nicht offiziell. Und dann könnte noch für heuer der Verlobungstermin angesetzt werden. Und wenn sich das organisatorisch nicht ausginge, dann Anfang nächsten Jahres.
Ali klang ganz begeistert und hatte sich jetzt richtig warm geredet. Seine anfängliche Unsicherheit war komplett verschwunden.
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