Ich erinnere mich noch der Abschiedsszene, sie war rührend. Da stand Chalil da mit versteinertem Gesicht und blickte, wie es seine Art ist, ins Leere. In der Hand hielt er einen Korb mit Proviant und einem Wasserschlauch. Das war alles, was er den beiden Verstoßenen mit auf dem Weg gab. Seine Augen deuteten an, dass er zu diesem Schritt gezwungen wurde, Mara befahl und er gehorchte. Wohlwissend, dass Mutter und Sohn in den Tod geschickt werden, dass es eine Reise ohne Wiederkehr sein wird, unternahm er nichts und ließ seine Frau gewähren. Mara hätte die beiden am liebsten eigenhändig liquidiert, so bösartig und hasserfüllt war sie. Ich hätte deiner Mutter nie ein solches versteinertes Herz zugetraut.
Die Zeit verging, von der Sklavin und ihrem Sohn hörten wir nie wieder, wer weiß, vielleicht sind sie längst gestorben, in der Wüste verreckt. Doch bevor es soweit war, wurde unser Land von einer bitteren Hungersnot heimgesucht, von der du sicherlich gehört hast. Ich fragte mich: ist das nicht die gerechte Strafe dafür, für das Unrecht, das der armen Frau angetan wurde? Chalil, war zu jener Zeit unser Dorfvorsteher, der viel auf seine verdrehten Geschichten hielt. Die Hungersnot machte ihm zu schaffen, kratzte an seinem Ansehen. Er wollte seine Pflicht erfüllen und die Not mildern, nicht weil die Not der anderen ihm so sehr am Herzen lag, sondern weil er um seine Macht fürchtete. So war ihm jedes Mittel recht. Alle Dorfbewohner schauten auf ihn, auf den reichen, angesehenen Mann. Die Hungersnot war seine erste Bewährungsprobe. Ihm blieb nichts anders übrig, als den schweren Gang über die Berge zu gehen, dorthin, jenseits des Flusses, gab es einen Herrscher, ein reicher Großgrundbesitzer, der über fruchtbare Ländereien verfügte. Er war der einzige, der in einer solchen Situation hatte helfen können, aber er tat nichts umsonst. Dieser Mensch hatte eine Schwäche für Frauen, er liebte sie über alles und konnte nicht genug von ihnen haben, man kann sagen, er war ein Schürzenjäger. So erteilte er seinem Gesinde den Befehl, jede schöne Frau, die gesichtet wird, bei ihm zu melden. Obwohl dein Vater dies wusste, marschierte er dorthin, um seine Sippe vor dem Verhungern zu retten. Die Reise war beschwerlich und dauerte viele Monate. So beschloss Chalil, deine Mutter mitzunehmen. Die Schönheit deiner Mutter war ja allgemein bekannt und dein Vater überlegte: erzähle ich dem Gesinde des Herrschers, sie sei meine Frau, so bringen sie mich kurzerhand um und schleppen meine Mara zu ihrem Herrscher, damit sei gar nichts gewonnen. Also wäre es doch besser zu sagen, sie sei meine Schwester. Dem Herrscher zugeführt wird sie ohnehin, aber so rette ich wenigstens mein Leben, erhalte, was ich brauche und erfülle meine Pflicht unserem Geschlecht gegenüber. Wie nicht anders zu erwarten war, wurde Mara sofort zum Herrscher geführt und es gab keinen Gott weit und breit, der sie aus dieser misslichen Lage hätte retten können. Es ist ja auch fraglich, ob sie hätte gerettet werden wollen. Von einem mächtigen Herrscher begehrt zu werden, befriedigt schließlich die Eitelkeit jeder Frau und sie war sich keiner Schuld bewusst. Hat nicht ihr Mann sie dem Verführer eigenhändig ausgeliefert?“
Dem Jesreel stockte der Atem, er glaubte bald zu ersticken und war der Ohnmacht nah. Anstatt den Alten anzuflehen, mit seiner Erzählung aufzuhören, stürzte er sich reflexartig auf ihn, um ihn zu erwürgen oder zumindest auf der Stelle zum Schweigen zu bringen: „Willst du…, willst du“, stammelte er „willst du damit sagen, meine Mutter war eine Hure und noch dazu mit Billigung und dem Segen meines Vaters? Willst du…, willst du…, du niederträchtiger Mensch, meinen Vater zu einem Zuhälter machen? Dafür werde ich dich auf der Stelle umbringen.“ Er legte seine, trotz seiner jungen Jahre, kräftigen Händen an die Gurgel des Mannes, der dabei war, ihm Schritt für Schritt das Leben zu ruinieren und drückte kräftig zu. Der Alte wehrte ihn leicht ab. Er spürte sofort, dass Jesreel gar keine Kraft hat; denn er zitterte am ganzen Körper. Mit seinem vernebelten Blick schien er eher den Alten um Erbarmen zu bitten. Der Alte schaute ihn mitleidig an, er drückte den Jesreel kräftig an sich und ließ ihn sich ausheulen. Nach einer Weile sagte er: „Ich bedauere zutiefst, dir all das erzählen zu müssen.“
„Wieso musst du das? Du musst es gar nicht, wer zwingt dich dazu?“
„Mein Gewissen.“
„Ach, ein Gewissen hast du auch!“
„Ich kann deinen Ärger vollkommen verstehen. An deiner Stelle wäre ich womöglich völlig ausgerastet, daher bewundere ich, trotz allem, deine Selbstbeherrschung. Dennoch kann ich mir nicht verkneifen zu sagen, dass Mara die Zeit mit dem jungen, gutaussehenden Herrscher genoss, ja sie kostete die Befriedigung, die ihr mit Chalil versagt war und hätte sie die Wahl gehabt, bliebe sie im Harem; denn sie lernte zum ersten Mal eine Art des kultivierten Lebens kennen, die ihr bis dahin völlig unbekannt war. Sie, die nur mit ungepflegten, grobschlächtigen Schafhirten Umgang hatte, fing an, sich zu schminken, genoss das Bad, das gute Essen, die nächtlichen Vergnügungen mit Tanz und Spiel. Es war eine völlig andere, eine neue Welt. Doch der junge Herrscher hatte bald genug von ihr, er zahlte seine Schulden und ließ sie mit ihrem angeblichen Bruder ziehen. Sie kehrte mit dessen Samen im Bauch, aus dem du wurdest, zurück. Von den Einzelheiten wussten damals nicht viele. Dein Vater war sehr bemüht, alles geheim zu halten, er gab seinen Sklaven den Befehl: nie ein Wort über die Begleitumstände dieser unerfreulichen Reise verlauten zu lassen und drohte jedem, ihn eigenhändig aufzuhängen, wenn er dem Befehl zuwiderhandelt. Aber ein Sklave bleibt ein Sklave und für eine Goldmünze ist er bereit, alles zu verraten. Jedoch bedurfte es gar nicht der Bestechung; denn wir wunderten uns sehr über zwei Umstände: erstens dass die Reise so überaus erfolgreich war und zweitens, dass der Bauch deiner Mutter sich allmählich zu runden begann. Dein Vater kehrte mit einer vollbeladenen Karawane zurück. Er bekam noch mehr als er verlangt hat, sämtliche Wünsche wurden ihm erfüllt, schwer beladen waren die Maultiere. Alle Knechte waren fröhlich und umarmten sich, nun war die Not besiegt, die Katastrophe überwunden. Nur dein Vater schaute grimmig vor sich hin. Von da an erstarb das Lächeln auf seinem Gesicht. Es war eine Wunde, die nie heilen wird, die ihn sein Leben lang begleiten wird.
Die Menschen, die dem Hungerstod entronnen waren, lobten ihn überschwänglich. Sie lobten seine Umsicht, seine Geschicklichkeit. Als aber ein paar Monate später die Schwangerschaft deiner Mutter nicht zu übersehen war, wunderten sich die Menschen noch mehr. Artig wie sie sind, spielten sie die Unwissenden und schrieben den Umstand der Frömmigkeit deines Vaters zu. Endlich hat der Allmächtige seine Gebete erhört und ihm den heißersehnten Wunsch nach einem Stammhalter erfüllt. Ist nicht der Allmächtige zu allem fähig? Belohnte er nicht stets die ihm Ergebenen? Sagten und fragten sie sich.“
„Du willst also behaupten, ich bin der Sohn von diesem ruchlosen Menschen?“ fragte Jesreel mit bebender Stimme.
„Ich behaupte es nicht, mein Sohn, es ist die Wahrheit, die so offensichtlich ist, dass man sie gar nicht widerlegen kann. Ich habe weder etwas erfunden noch Vorhandenes ausgeschmückt. Fakt ist, Chalil ist ein Opportunist und missbrauchte Mara als Mittel, um Ziele zu erlangen.“ Hanafi stöhnte und fügte hinzu: „Häufig ist die Wahrheit widerlicher als uns Menschen lieb ist, deswegen lügen die Menschen ja auch so gern. Es ist eine Schutzmaßnahme, um das Leben erträglicher zu machen. Ein aufrichtiges, lügenfreies, ein wahrhaftes Leben würden wir Menschen gar nicht ertragen, vermute ich.“
„Hör auf… Hör auf mit deinen verdammten Vermutungen, ich flehe dich an. Du weißt gar nicht, was du da sagst. Das ist nicht wahr. Du hast dir alles ausgedacht. Du bist kein Mensch, sondern eine Gottesgeißel. Ich verabscheue dich.“
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