Ohne weiteren Aufenthalt fuhr Michael auf direktem Weg zu Julias Haus, damit sie sich etwas frischmachen und umziehen konnten. Sie bewohnte ein komfortables Haus, das vor der Jahrhundertwende einem Plantagenbesitzer, einem der reichen Zuckerbarone, gehört hatte.
Der Wagen hielt vor dem Eingang. Eine leicht verfallene Steintreppe führte zum Erdgeschoss. Die Villa hatte sicher einmal bessere Tage erlebt, als hier noch Feudalherren residierten. Michel winkte einem jungen Mann, der wortlos das Gepäck ins Haus trug. Es bot genügend Platz für ihren Gast, der ein geräumiges Gästezimmer mit separatem Bad erhielt. Sie verstauten provisorisch ihre Sachen, um genügend Zeit für die Besichtigung ihres Instituts zu haben.
Den kurzen Weg zum Institut fuhren sie mit Michels Wagen. Es war ein langgestreckter Flachbau, wohl etwa vor zwanzig Jahren errichtet. Sie gingen zunächst in ihr Arbeitszimmer, wo sie einen kurzen Blick auf einige Statistiken und Berichte warf. Julia schien mit den Berichten zufrieden zu sein.
Anschließend besuchten sie die Laboratorien: Weiß gekachelte Räume und Tische mit Wasseranschluss und unzähligen Phiolen, Regalen und Bunsenbrennern. Julia begrüßte ihre Mitarbeiter, die respektvollen Abstand wahrten. Sie erkundigte sich bei jedem einzelnen, den sie mit vollem Namen ansprach, wie es ihm ginge, was Frau und Kinder machten und wie die Arbeiten vorankämen. Hinrich konnte kein Wort verstehen, weil sie Spanisch sprachen, aber die Antworten schienen auf keine besonderen Probleme hinzudeuten.
Sie erklärte ihrem Bruder ihre Arbeit:
- Hier in diesen Räumen spielt sich unser tägliches Leben ab. In diesen Laboratorien machen wir die Tests und daneben unsere Forschungsarbeit. Die Berichte erstelle ich drüben in meinem Privatbüro, wo ich ungestört arbeiten kann. Dort könnten wir einen Kaffee trinken, wenn du willst. Oder etwas anderes, vielleicht einen Saft.
Sie gingen über den Gang in ihr Büro. Und setzten sich an den kleinen Besprechungstisch.
- Ich erfuhr neulich, sagte Hinrich und senkte die Stimme, damit ihn keiner hören könnte, dass ihr während der letzten Testphase eine größere Anzahl von Todesfällen gehabt haben sollt. Stimmt das und wurden inzwischen die Ursachen geklärt?
- Leider stimmt es. Bezüglich der Ursachen tappen wir noch immer vollkommen im Dunkeln. Möglich, dass es sich um die natürlichen, bis heute leider nicht gänzlich zu vermeidenden, Todesursachen handelt. Die Patienten sterben meistens an Nierenversagen. Aber wir wissen nicht genau, welches die Ursache der Krankheit ist, und warum die Medikamente nicht helfen. Viele unserer Patienten sind ziemlich schwach, wenn sie zu uns ins Krankenhaus kommen. Sie sind schlecht ernährt und von harter Arbeit ausgemergelt. Eines Tages hoffen wir mit Hilfe unseres neuen Wirkstoffs Vexalin die Krankheit wirkungsvoll bekämpfen zu können. Aber wir sind noch nicht so weit. Bis dahin wird der Tod wohl unser ständiger Begleiter sein.
Ein Leichenwagen fuhr am Fenster vorbei. Über Lautsprecher wurde die Beerdigung für den folgenden Tag angekündigt, übersetzte Julia und fuhr fort:
- Das ist hier so üblich. Sie laden alle Dorfbewohner zu der Beerdigung ein. Fast wöchentlich finden solche Feiern statt.
- Ich hoffe, sie waren nicht deine Patienten, und vor allem nicht an den Tests beteiligt.
- Leider waren sie es. Einige wenigstens. Das macht mir große Sorgen, weil wir die Ursachen nicht kennen.
- Ihr müsst sie unbedingt so schnell wie möglich herausfinden, forderte Hinrich, wobei seine Stimme den Ernst der Situation ausdrückte. Solche Häufungen von Todesfällen können sich schnell zu einem öffentlichen Skandal ausweiten.
- Wem sagst du das? Ich weiß es selbst. Wir arbeiten Tag und Nacht an der Erforschung.
- Ich will den Teufel nicht an die Wand malen, aber die Sache kann zu einer offiziellen Untersuchung führen, bei der unter Umständen einige Fakten ans Tageslicht kommen können, die für uns alle sehr unangenehme Folgen haben können. Habt ihr die Testreihen sorgfältig dokumentiert?
- Ja, Michel ist sehr gewissenhaft, beteuerte Julia, aber sie war sich bezüglich seiner Mitarbeiter nicht sicher. Irgendein Problem mussten sie übersehen haben, aber welches? Sie wusste es nicht.
- Habt ihr Klimaanlagen in den Laboratorien?, wollte Hinrich wissen.
- Warum fragst du?
- Einige Medikamente vertragen das feuchtheiße Klima nicht. Die Wirkstoffe verändern sich bei unsachgemäßer Lagerung.
- Gehört dazu auch das Vexalin ?
- Ja, wahrscheinlich das auch, aber wir wissen es noch nicht genau.
- Wer ist : „Wir“?.
- Die Prüfung der Wirkstoffe auf Umweltverträglichkeit fällt in den Zuständigkeitsbereich von Ingrid, wie du weißt. Nicht in meinen.
- Ich dachte, Lagerung und Versand wären dein Aufgabenbereich.
- Ist es auch. Aber nicht die Prüfung der Umweltverträglichkeit. Dazu habe ich nicht die Möglichkeiten. Nur Ingrid hat die entsprechenden Laboratorien im Krankenhaus, wie du weißt.
- Sie hat mir von den bestehenden Problemen nichts erzählt, obwohl sie vor einigen Wochen hier bei uns zu Besuch war.
- Ach, davon hat sie mir nichts gesagt. Das wusste ich nicht.
- Redet ihr denn nicht miteinander?
- Nur selten. Sie mag mich nicht besonders.
- Das ist nicht gut, für euch und vor allem nicht für die Firma.
- Ich kann es nicht ändern.
- Ihr müsst das Produkt gegen Wärme und Feuchtigkeit schützen, denn wir können uns hier nicht überall Klimaanlagen leisten. Nur hier in meinem Büro gibt es eine.
- Sonst nicht?
- Nein. Das können wir derzeit leider nicht ändern, weil uns die Mittel für die Installation einer Klimaanlage fehlen. Deshalb behelfen wir uns so, dass wir die chemischen Substanzen in abgedunkelten Räumen in der Mitte des Gebäudes analysieren. Dort haben wir auch das Labor, in dem wir die den Testpersonen entnommenen Blutproben entnehmen können. Bei der Untersuchung konzentrieren uns dabei vor allem auf die Nierenwerte, bestimmen den Gehalt an Magnesium, Kalium, Kalzium und Natrium. Das übliche eben. Das ist das Reich von Michel. Die statistische Auswertung der Daten erfolgt mit Hilfe eines Computerprogramms. Vor dem Bildschirm verbringt er den größten Teil seiner Zeit.
- Arbeitet ihr in Übereinstimmung mit den Richtlinien für Good Clinical Practise – GCP für die Durchführung der klinischen Tests an Menschen?, erkundigte sich Hinrich.
- Ja, wir sind ISO 14155 zertifiziert. Wir halten die dort genannten Vorschriften peinlich genau ein, so hoffe ich wenigstens. Ich kontrolliere selbst, wo immer es geht. Aber oft fehlt es mir an der notwendigen Zeit.
- Haben fremde Personen Zutritt zu diesem Gebäude?, wollte Hinrich wissen.
- Normalerweise nicht. Aber manchmal kommt es vor, wenn die Räume desinfiziert werden.
- Wie oft geschieht das?, erkundigte sich Hinrich, der an diesem Punkt besonders interessiert zu sein schien.
- Wir reinigen täglich Boden und Wände. Aber die wertvollen Apparaturen werden nur von dem dort beschäftigten medizinischen Personal gereinigt. Unsere Putzkräfte sind ganz einfache Frauen. Die lassen wir nicht an die empfindlichen Geräte. Dabei könnte viel zerstört werden. Das ist mir zu riskant.
- Das machen wir bei uns genauso, pflichtete ihr Hinrich bei. Die elektronischen Geräte dürfen nicht mit aggressiven Flüssigkeiten in Berührung kommen. Zudem könnten Einstellungen verändert werden, wenn unerfahrene Menschen damit in Kontakt treten.
- Im Prinzip arbeiten wir hier genauso wie in München. Wir haben die gleichen Vorschriften. Da gibt es keine Unterschiede.
- Aber es muss doch Unterschiede geben, denn wir haben bei uns nicht diese Häufung von Todesfällen, beharrte er.
- Wenn ich es wüsste, sagte Julia und hob etwas verzweifelt die Hände. Vielleicht liegt das Problem bei euch in der Produktion, in der Lagerhaltung oder im Versand? Wir beziehen ausschließlich die Substanzen aus unserem Münchener Werk.
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