1 ...6 7 8 10 11 12 ...19 Ein Lehrer betrat den, seinen Gedanken ähnlich, düster wirkenden Raum, schaute sogleich auf die in den hinteren Bänken sitzenden Schüler. „Meine Damen, meine Herren, setzen sie sich doch etwas vor, besetzen sie bitte auch die ersten Reihen“. Er fühlte sich nicht angesprochen, so wenig wie die anderen Hinterbänkler auch. Folglich wurden sie alle in die erste Reihe zwangsversetzt. Eine Situation, die er eigentlich unbedingt vermeiden wollte, die aber in der Gemeinschaft der anderen doch ganz erträglich schien. Vor allem war er dadurch, ohne eigenes Zutun, mit einer Gruppe verbunden, was seine Stimmung sehr anhob. So sehr, dass er sich danach recht lässig in der ersten Bank lümmelte und mit ansteigender Zuversicht gelangweilt den Ausführungen des Lehrers lauschte.
Es ging alles gut. Aufatmend, erleichtert verließ er das Schulgebäude. Für den Augenblick bekam alles seine gewohnte Zuordnung wieder. Er konnte durchatmen und es schien so, dass er sogar in der realen Gegenwart eine Nische finden könnte.
Zwei Mitschüler wohnten im gleichen Heim wie er und damit war er ein Teil dieser Zweckgemeinschaft. Sie bot ihm eine gewisse Sicherheit in dieser neuen Umgebung, ohne dass er einer eingefahrenen Hierarchie, bei der er meist am unteren Ende seinen Platz fand, unterworfen war. Sie beschlossen, einmal aufs Geratewohl in die Stadt zu fahren, man würde dann schon sehen. Markanter Punkt, oder das Herz fast einer jeden Stadt, ist ihr Bahnhof, meist zentral in der Mitte gelegen. Es lässt sich kaum vermeiden, sich früher oder später dort einzufinden, da, wo Tausende von Menschen ihre Reise, ihre Fahrt beenden oder beginnen.
Das Gebäude war groß und mindestens so hässlich, graubraun, mit gewaltig hohen Hallen. Verzerrte Stimmen aus den Lautsprechern durchdrangen nur undeutlich das Stimmengewirr der Masse von Menschen. Dieser Ort lebte, faszinierte die Buben. Einmal die Hallen durchlaufen, betont lässig, sichtlich uninteressiert am Geschehen... ein Höhepunkt für die Neuen aus der Provinz.
Das Knurren des Magens, das sich nach ein paar Stunden ohne Nahrung bemerkbar machte, stillten sie mit einer Currywurst aus einer dieser schmuddeligen Imbissstände, die sich entlang der Ein- und Ausgänge wie Perlen aufreihten. Er meint heute noch, dass er nie wieder eine Bessere gegessen habe. So standen sie da, aßen und redeten miteinander. Eigentlich waren sie grundverschieden, doch das war nicht von Bedeutung, es belastete sie keine gemeinsame Vergangenheit. Es lief wieder gut für ihn. Die Panik des Vormittags war vergessen, es war so, als hätte es sie nie gegeben.
Einer von den beiden anderen, vertraut mit dem aktuellen Geschehen der Gegenwart, zeigte ihm dann im Laufe der Zeit eine ihm völlig unbekannte Welt, aus einer Sichtweise, die ihm fremd war. Er begann sich dann für das Weltgeschehen zu interessieren, bildete sich nach und nach eine kritische Meinung, sicher nicht ganz unbeeinflusst von den liberalen, gar anarchistischen Idealen seines Schulfreundes.
Das Amerika Bild seiner Kindheit, der Wilde Westen, die rauen, harten Kerle mit ihren rauchenden Colts, verlor seine Unschuld und zeigte sich in einer hässlichen Parodie. Der Vietnamkrieg, in den Artikeln der ihm bisher täglich zugänglichen, lokalen Presse, immer einseitig pro amerikanisch dargestellt, gar idealisiert als Kampf der freien Welt gegen den Kommunismus, präsentierte sich ihm in seiner ganzen Hässlichkeit. Eine zunehmend kritische Berichterstattung einer liberalen Presse, Bilder von fliehenden, nackten, um ihr Leben rennenden Kindern, oder die Erschießung eines Gefangenen, wirkten schockierend auf ihn. Er fühlte sich diesen schwachen, leidenden Menschen nahe, sie waren ja irgendwie wie er.
Er stellte dann noch grundsätzlich Autoritäten in Frage. Ihre Macht respektierte er dennoch, offene Auflehnung war noch nicht sein Ding. Doch er begann sich seit diesen Tagen den personifizierten Autoritäten des Staates und der Gesellschaft, die er zusehends als eine Bande von Ignoranten und Dummköpfen hielt, zu verweigern. Die Proteste der Studenten, zugegeben er wusste nicht so ganz genau, was die wollten, waren bewundernswert, ein Quell der Hoffnung gegen ein scheinbar allmächtiges System.
Welche heimliche Freude löste der Brandanschlag auf ein Frankfurter Kaufhaus aus. Wie hasste er diesen Staat und seine Repräsentanten nach den Osterunruhen, wegen ihrer aktiven und verbalen Reaktionen, wegen ihrer Ignoranz gegenüber den Protesten, der kaum zu überbietenden Dummheit und des Dilettantismus beim Einsatz so genannter staatlicher Gewalt bei Demonstrationen.
Wie Hohn klangen die Worte des scheinbar zu einem Demokraten konvertierten ehemaligen NSDAP Mitgliedes und jetzigen Bundeskanzlers, der von einer Gefahr von Minderheiten für die freiheitlich- demokratische Ordnung sprach. Das einzige, was der glaubhaft aussprechen konnte war das Wort „Ordnung“. Das war doch ein altes, vertrautes Wort für ihn und seinesgleichen. Freiheitlich und demokratisch, solche idealistische Begriffe klangen sarkastisch aus dessen Mund.
Wie sein Denken auf diese Schiene geriet, was diese Auflehnung verursachte, war es nur eine längst überfällige, pubertäre Auflehnung oder eine tiefe innere Überzeugung? Er weiß es nicht, aber wie es auch immer begann, es hat bis heute Bestand. Damals hinterfrage er seine Ansichten nicht explizit, er erlebte sich in ihnen.
Er genoss die Zeit in der großen Stadt, die Freiheit, das unbekümmerte Leben. Die zeitweise Wiederkehr alter Probleme beim Unterricht trübte manchmal diese Glückseligkeit. Immer wieder einmal bekam er Probleme beim Sprechen, nicht so bedrückend, wie er sie als Kind verspürte, doch noch genug, um ihn zu ängstigen.
Diesmal setzte er aber eine wirksame Strategie dagegen, die, in dem er Prioritäten setzte. Vorrangig räumte er seinem Ansehen bei seinen Mitschülern die höchste Priorität ein, er wollte keine Blamage mehr erleben! Es war einfacher, die Unterrichtsbeteiligung zu verweigern, sich unwissend zu geben, als sein Ansehen zu demontieren. Die Frage einer Lehrkraft scheinbar desinteressiert zu ignorieren, sich teilweise massiver Kritik derselben auszusetzen, ist allemal leichter zu ertragen, als die Häme der Mitschüler.
Diese zusammen gezimmerte Strategie, auf der einen Seite erfolgreich, hatte als Konsequenz aus der Verweigerung der schulischen Mitarbeit auch merkliche Nachteile für ihn. Er war so damit beschäftigt, diese vermeintlichen hinterhältigen und facettenreichen Angriffe der Lehrkräfte auf seine Person abzuwehren, dass er etwas die Orientierung im Unterricht verlor. Seine schriftlichen Leistungsnachweise waren nicht schlecht, aber auch weit weg davon, sie als gut einzustufen, hervorragend geeignet, um seine Rolle glaubhaft vorzutragen, völlig ungeeignet für die eigenen Ansprüche. Ein Dilemma aus dem er keinen Ausweg fand und mit Blick auf seine gesetzte Priorität, es auch keinen Ausweg gab.
Nachmittags, nach dem Unterricht, war alles wieder vergessen. Die Stadt, ihr pulsierendes Leben, ihre Hektik, gaben ihm die Anonymität und Sicherheit, in der er sich wohlfühlte. Er konnte sie betrachten, die Menschen, ihr Verhalten, ohne sich der Gefahr auszusetzen, selbst beachtet zu werden und unvermittelt im Focus des Interesses zu stehen. Ein pures Wohlgefühl zwischen Currywürsten, stinkenden Autos und stillosen Zweckbauten einer an sich seelenlosen Stadt.
Umgarnt von all den neuen Erfahrungen und Möglichkeiten, kam nie Langeweile auf. Sie hatten daher auch keine Zeit für persönliche Streitereien oder gar zeitraubende Schulaufgaben. Unbeschwerte Tage und Wochen folgten, etwas eingetrübt von dem ewigen Problem leerer Kassen und der Hausordnung des Wohnheims, wegen des nächtlichen Torschlusses für Minderjährige, die sie nun mal waren.
Diese Widernisse konnten ihr Lebensgefühl nicht ins Wanken bringen. Kindlich unbekümmert, ohne belastende Verantwortung und drückende Verpflichtung, das würde die größten Vorzüge der drei am besten beschreiben. Eine einmalige Zeit im Leben eines jungen Menschen. Keine drückende Verantwortung lastet auf den Schultern, die Freiheit träumend zwischen Realität und Fantasie mit fließenden Grenzen zu leben, die Tage einfach verrinnen zu lassen, sich der realen, nüchternen Welt entziehen. Frei von jeder Kontrolle einer mürrischen Mutter oder eines penetrant korrekten Ausbilders, keine ständige Erinnerung an die beschissene, traumatische Kindheit, was für ein herrliches Gefühl!
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