Ob das Vorbild in all seinen Facetten seinem Ideal entsprach, war zu Beginn dieser Beziehung nicht von großer Bedeutung. Viele lebende Vorbilder und Ideale hatte er noch nicht kennen gelernt. Irgendwie tat er ihm gut, dieses Prachtbild eines Beamten, der immer pünktlich auf die Minute den Dienst antrat und beendete, ohne dienstliche Erfordernisse keine unnötigen privaten Plauderstündchen im Amt einlegte, irgendwie war er aus einer anderen Zeit übrig geblieben.
Er bildete ihn gut aus und lehrte ihn alles, was zur Ausübung des Berufs nötig war. Auch vergaß er nie, sein besonderes Können, seine beruflichen Glanzpunkte zu erwähnen. Hier war er eine Primadonna, eitel und süchtig nach Anerkennung und Applaus. Es musste kein erlesenes Publikum sein, das ihn hochleben ließ, auch einfache Messgehilfen oder Stammtischbrüder jeglicher Art waren ihm genehm und natürlich auch die Bewunderung seines Lehrlings.
Während die Demonstration seiner intellektuellen und fachlichen Überlegenheit teils bewundernd aufgenommen wurde, führte die Präsentation des felderprobten Soldaten manches Mal zu schmerzhaften Erfahrung des Lehrlings. Die in der freien Natur zu erledigenden Arbeiten wurden in der Regel in den Wintermonaten ausgeführt. Vermessen von landwirtschaftlichen Wegen und Wasserläufen. Schöne Arbeiten in reizvoller Landschaft könnte man meinen, wenn in dieser Jahreszeit die Temperaturen nicht so weit außerhalb eines gewissen Wohlfühlbereiches liegen würden. Kommt dann noch romantischer Schneefall und kalter Wind hinzu, ist das klimatische Horrorszenario perfekt.
Bei normal gearteten Beamten, dem Rest der Belegschaft, waren Witterungsbedingungen dieser Art ein willkommener Grund, entweder früher nach Hause zu fahren oder den Tag gemütlich in irgendeiner abgelegenen Gaststätte zu verbringen. Von solchem Verhalten war der Vorzeigebeamte weit entfernt, es war für ihn gar verachtungswürdig. So eine Schwäche würde er nie zeigen und sein Lehrling durfte, natürlich ungefragt, an dieser Einstellung teilhaben.
Er, der fünfzehnjährige Hungerhaken, ein Strich in der Landschaft, eingehüllt in einen zu großen Bundeswehrparka, musste an solchen Tagen die gesamten acht Arbeitsstunden im Freien verbringen. Nach zwei, drei Stunden fühlten sich die Füße so kalt an, dass sie wie leblose, abgestorbene Glieder in den Schuhen steckten und so unwirklich fühlte sich dann auch jeder Schritt an. Ein Körper, der sich an den eigenen, ununterbrochenen Zitterbewegungen erlebte. Hände so kalt und schmerzend, dass sie das Schreibgerät kaum halten konnten. Eigenartig unempfindlich gegen derartige Widernisse, stand sein Chef mit geschwellter Brust den ganzen Tag neben ihm, und überwachte mit Argusaugen seine Arbeit.
Seine Verzweiflung nahm manches Mal Dimensionen an, die nahe bei Suizidgedanken lagen. Stunden können lang sein, wenn man die Minuten zählt und diese noch in gezählte Sekunden gliedert. Sehr lang, wenn einem die Kälte jede Minute, ja jede Sekunde, körperliche Schmerzen bereitet. Die Art der Tätigkeit ließ nur gelegentliche Bewegung zu, zu wenig, um sich zu erwärmen und diese Ikone von einem wetterharten, strammen Soldaten stand wie sein eigenes Denkmal an seiner Seite, unerbittlich in dem Vorhaben, die vorgenommene Arbeit zu Ende zu bringen. Seit diesen prägenden Erlebnissen pflegt er ein gestörtes Verhältnis zu der Jahreszeit, die ihn in diese Bredouille brachte. Doch seltsamer Weise war er damals stolz nach getaner Arbeit, nach überwundenem Leiden, er hatte seinen Mann gestanden. Ein paar anerkennende Worte und alles Leiden war vergessen.
Was war er doch für ein Kerl, verglichen mit seinen, in den warmen Fabriken und Büros arbeitenden, ehemaligen Mitschülern. Sein Ego dankte ihm jede Aufwertung, jede sich bietende, wenn noch so kleine, aufwertende Besonderheit. Sie richtete ihn innerlich wieder ein Stückchen mehr auf. Er meinte, sich dem gedachten Ideal zu nähern, der Person, die er sein wollte, stark, erfolgreich, gut und edel. Er, eben ein Träumer mit fließenden Grenzen zum realen Leben.
Eine der Besonderheiten einer Lehre bei einer technischen Behörde war die, dass die schulische Ausbildung der Lehrlinge des ganzen Landes zusammengefasst war. Die Bildungsstätte, in der dies stattfand, lag jedoch nicht in unmittelbarer Nähe, sondern in der einhundert Kilometer entfernten Landeshauptstadt. Ein ideeller Quantensprung, diese Möglichkeit, dazu noch zwingend vorgegeben, in dieser Stadt wochenweise zu leben und zu wohnen. Weg von zu Hause, weg aus dem Zwang der sich täglich wiederholenden Rituale zu Hause, denen er sich nicht gänzlich entziehen konnte. Zu dieser Zeit wuchs sein Verlangen immens, die Vergangenheit aus seinem neuen Leben zu drängen. Sie war ihm lästig, doch klebte sie wie eine Klette an ihm, ein Gefühl, das er insbesondere zu Hause empfand.
Diese Vergangenheit störte die neue Konstruktion, das neue Bild, das er von sich kreiert hatte. Eine gewisse Arroganz kam auf. Seine Unsicherheit, so ganz glaubte er noch nicht an sich, überspielte er mit einem introvertierten Verhalten. Eine Distanz zu seiner Umgebung zu schaffen war dabei nicht seine Absicht, er wollte nur den schützenden Effekt eines solchen Verhaltens für sich in Anspruch nehmen. Es drängte ihn, sich auf irgendeine Art neu zu positionieren oder vielleicht auch sich, seine Legende, neu zu erschaffen und dazu brauchte er die Freiheit einer neuen Umgebung, neue Menschen, einen Neubeginn ohne die Altlasten der Vergangenheit. Die Umstände meinten es nun gut mit ihm, sie zwangen ihn geradezu, das zu tun, was er aus eigenem Antrieb zu dieser Zeit wohl nicht getan hätte, wegzugehen.
An einem Morgen, kurz nach seinem sechzehnten Geburtstag, zog er dann für mehrere Wochen in die Großstadt. Untergebracht in einem Lehrlingsheim, einer karitativen Organisation christlicher Prägung, stand er da in der großen Stadt. Vor ihm türmte sich ein Berg von zwar eher kleinen Problemen auf. Die Sorge, wie er diese lösen könnte, war dagegen umso größer. Welche Straßenbahnlinie verbindet das Heim mit der Schule? Was kostet das? Wie bekomme ich eine Fahrkarte? Wann muss ich losfahren, um nicht zu spät zu kommen? Wie würde er ankommen bei den Mitschülern und den neuen Lehrern?
Sein Denken erinnerte sich an das Empfinden der Kindheit. Unangenehme, verdrängte Erinnerungen zerrten an seinem, noch sehr labilem, Selbstverständnis. Kurzerhand verwehrte er ihnen jedoch den Zutritt in die Illusionen seiner mühsam aufgebauten, subjektiven, doch leidlich lebbaren Welt. Es gab sowieso keine Möglichkeit eines Rückzuges mehr, auch wenn er ihn in einem Anflug von aufkommender Panik, kurz konkret andachte.
Eine unerträgliche Anspannung lähmte ihn fast, als er den Hof der Schule betrat. In diesem Augenblick glaubte er, die Kontrolle über sein Denken und Handeln zu verlieren. Wie eine riesige Welle schwappte mühsam Verdrängtes wieder hoch und begrub sein neues Selbstverständnis unter sich. Weg war die Aufbruchsstimmung, die Euphorie, sein neues Lebensgefühl der letzten Monate. Er fühlte sich wieder als der kleine, abgelehnte Stotterer, der er einmal war.
Unsicher blickte er um sich. Standen vielleicht schon Mitschüler da, die ihn kritisch beobachteten und ihm seine Schwächen ansahen? Seine Beine drohten ihm den Dienst zu versagen, die Heftigkeit dieser Gefühle war niederschmetternd. Er wollte raus aus dieser Situation, doch wie? Er konnte nur davonlaufen. Nur wohin sollte er laufen, wie sollte er sich dann erklären, zu Hause, im Amt? Da musste er wohl weiter gehen, wenn seine Zukunft nicht abrupt enden sollte. Er weiß nicht mehr, wie die nächsten Minuten vergingen, wie er das Klassenzimmer fand, auf einem der hinteren Bänke Platz nahm und mit düsteren Gedanken der Dinge harrte, die nun kommen würden.
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