Sie trat heraus und stand unmittelbar vor dem Prinzen. Das erste Mal sahen sich der Königssohn und das Mädchen tief in die Augen, beide im gleichen Maße erschrocken und verwirrt.
Ihr Herz raste. Sie drückte beide Füße fest gegen den Boden. Nur nicht ins Schwanken kommen, ja nicht umkippen, dachte sie und senkte den Blick. Sie konnte ihn riechen und seinen ebenfalls unregelmäßigen Atem spüren. Die Zeit schien still zu stehen. Doch leider wurde sie herausgerissen aus diesem wunderschönen Stillstand, von einem Mann, den sie bisher nicht mal wahr genommen hatte.
„Kompliment! Prinz Olaf, Ihr habt wunderschöne Mägde in Eurem Reich“, drangen die Worte des Unbekannten an ihr Ohr und sie bemerkte, wie er sich an sie wandte. „Reizendes Kind, würdet Ihr so freundlich sein und mir Euren Namen verraten?“
Nur mit Mühe und kaum hörbar kam ihr „Marie“ über die Lippen.
„Welch schöner Name! Sagt Marie, ist es in diesem Land nicht üblich, dass sich die Mägde vor ihrem zukünftigen König verneigen?“
Oh je, das hatte sie in ihrer Aufregung völlig vergessen. Artig verneigte sie sich tief, verharrte wartend und spürte die Blicke beider Männer auf ihren bebenden Busen.
Dessen Anblick löste bei dem Prinzen wieder dieses Kribbeln im Körper aus und trieb ihm eine wahre Flut von Schweißperlen auf die Stirn. Seine rechte Hand fuhr in die Hosentasche, suchte nervös das Taschentuch, fand es, zog es heraus und mit ihm versehentlich auch den Brief. Dieser landete direkt vor ihren Füßen. Dort lag sie nun, die Einladung, heruntergefallen im denkbar ungünstigsten Augenblick.
Alle drei starrten gebannt auf das Papier, jeder seinen Gedanken nachhängend.
Olaf trat von einem Bein auf das andere, wusste nicht ein noch aus. Sollte er es im Beisein des fremden Königs wagen? Verlegen schaute er zu diesem herüber und war gelähmt, denn der Mann schaute ihn aufs Merkwürdigste an.
König Klaus der Dritte verfolgte jede Regung des Königssohnes. Der Kleine ist zwar verliebt in sie, dachte er, aber würde er den Mut aufbringen, ihr die Einladung zu übergeben? Die Unsicherheit des Prinzen bereitete ihm zunehmend Vergnügen. Obendrein erfreute er sich an dem Anblick des Mädchens in dem grünen Samtkleid, welches sie fraulich und verführerisch erscheinen ließ. Ihm gefiel besonders, dass sie ausgerechnet dieses Kleid trug?
Obwohl sie die Blicke der Männer spürte, galt Maries ungeteilte Aufmerksamkeit dem Brief, der ebenso gut roch, wie der Prinz selbst. Es war ihr, als würde der Brief ihr zuflüstern: Komm, nimm mich! Lies mich! Ich bin für dich bestimmt! Öffne mich! Aber so einfach ging das doch nicht. Das gehörte sich nicht. Der Prinz musste sie dazu auffordern!
Langsam nahm sie den Brief vom Boden, richtete sich auf und sah in die flehenden Augen des Prinzen. Sie hielt ihm den Brief entgegen, bat ihn mit Blicken um die von ihr erhoffte Aufforderung und erkannte zugleich, dass er es nicht vermochte.
Der Königssohn hatte etwas tief Trauriges in sich und mit eben dieser Traurigkeit nahm er ihr den Brief aus der Hand - wortlos. Sie bemerkte, wie sich das Gesicht des Fremden zu einem breiten Grinsen verzog.
„Schönes Fräulein, Ihr wisst, dass Euer Prinz heute Geburtstag hat?“ sprach dieser zu ihr.
Marie nickte stumm.
„Ja, wollt Ihr Eurem Prinzen nicht gratulieren?“ forderte er sie übermütig auf.
Oh, wie gern würde sie das tun, doch sämtliche Halsmuskeln krampften sich schmerzhaft zusammen. Es würgte sie, so als wenn sie innerlich Tränen weinte. Marie schloss die Augen, schluckte mehrmals, öffnete den Mund und heraus gluckste ein gurgelnder Ton. Sie versuchte es noch einmal, schaffte es aber erneut nicht. Sie schämte sich so sehr, dass sie ihr Kleid hochraffte und losrannte.
Völlig verblüfft, jedoch in unterschiedlicher Gemütsverfassung, glotzten ihr die Männer hinterher. König Klaus fand zuerst seine Sprache wieder:
„Hübsches Ding! Der würde ich allerdings Gehorsam beibringen! Wie dem auch sei, ich denke wir sollten zum Schloss gehen. Dort warten sicher eine Menge schöner Frauen auf Euch, Frauen mit Klasse. Ihr ahnt nicht im Geringsten, wie ich Euch beneide.“
Klaus griff in die Zügel seines Pferdes und begann fröhlich zu pfeifen. Dem Königssohn war alles egal und schon gar nicht nach anderen Frauen zumute. Er verspürte eher den Wunsch, sich schnell auf sein Bett legen zu können und in seine Kissen zu heulen. Zwanghaft versuchte er seinen Gemütszustand vor seinem Gast zu verbergen, während er mit ihm zum Schloss ging.
Umschlungen von ihren langen kupferroten Haaren tanzte Olaf mit Marie leichtfüßig über den Boden des Ballsaales. Sie drehten sich schneller und schneller. Glücklich hielt er sie in den Armen. Marie fühlte sich leicht an und sie strahlte, als hätte er ein goldenes Wesen in den Händen.
Aber mit einem Mal wurde sie schwer und dunkel. Jetzt umgab beide schwarzes lila glänzendes Haar. Bei der nächsten Drehung wurde es wieder golden und leicht. In dem Wechsel zwischen golden und leicht, dunkel und schwer, führte er sie auf die Terrasse hinaus, die im Glitzerlicht des Mondes lag. Er hörte auf, sie zu drehen. Dicht standen sie beieinander, er und sein goldenes Mädchen. Zögerlich legte Olaf seine Hand in ihren Nacken. Sie ließ es geschehen und schaute mit leicht geöffnetem Mund zu ihm hoch. Er sah ihre Lippen auf sich zukommen. Zart konnte er diese schon spüren, doch plötzlich wurde Marie schwer, so schwer, dass er sie nicht mehr halten konnte. Eine unsichtbare Kraft zog an ihr, zerrte sie aus seinen Armen und nahm sie mit in Richtung Wald. Er lief ihr hinterher, stolperte, verlor dabei seine Krone, rappelte sich hoch, rannte weiter, während sie tiefer in den Wald hineinflog. Immer, wenn sie zum Greifen nah war, entzog sie sich ihm, indem sie sich einfach auflöste. Dabei lachte sie und rief gleichzeitig seinen Namen.
Er stöhnte, hörte unaufhörlich den Ruf seines Namens: „Olaf ...Olaf ...“. Nun klang es nach einer Männerstimme direkt über ihm. Langsam dämmerte es Olaf, er hatte geträumt. Sein Kopf schmerzte, alles drehte sich noch immer. Er versuchte die Augen zu öffnen. Vergeblich, sie klebten fest zusammen. Dann fühlte er etwas Kaltes im Gesicht und an der Schulter. Jemand rüttelte ihn heftig. Endlich gelang es ihm, die Augen ein wenig zu öffnen und über sich sah er das angespannte Gesicht von Klaus.
Diesen Mann kannte er erst seit zwei Tagen, aber er war ihm bereits vertrauter, als all die anderen Menschen, die ihn bisher begleitet hatten. Mit ihm konnte er über das sprechen, was ihn bewegte, über die Jagd, über seine Angst, im Königsamt zu versagen und sogar über Frauen. Es hatte ihm gut getan, dass Klaus gestern beim Ball an seiner Seite war. Sein neuer Begleiter heiterte ihn unermüdlich auf, so dass Marie langsam in den Hintergrund rückte. Klaus zeigte ihm außerdem die schönsten Frauen, die anwesend waren und als er merkte, dass Olaf an einem blonden langhaarigen Mädchen Gefallen fand, war er es, der ihm Mut machte, diese zum Tanz aufzufordern.
„Guten Morgen, Herr König! Wünsche wohl geruht zu haben?“ sagte Klaus jetzt lächelnd.
„Von wegen, wohl geruht“, antwortete Olaf noch ganz benommen, „ich habe Schreckliches geträumt, von ihr.“
Klaus ahnte, von wem der frisch gekrönte König geträumt hatte und es ärgerte ihn. Trotzdem fragte er galant höflich:
„Von welcher der Damen habt Ihr geträumt?“
„Von Marie“, sprach Olaf leise und verschämt.
„Hört, hört! Der König träumt von einer Magd und das, obwohl ihm gestern die schönsten Frauen aus allen Königshäusern der Welt zu Füßen lagen. Gut, wie auch immer. Ihr solltet aufstehen! Oder habt Ihr vergessen? Heute bekommt Ihr den Bogen Eures Vaters überreicht. Man wartet bereits sehnsüchtig auf König Olaf den Achten!“
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