Mit demselben Lächeln bückte er sich. Da der obere Knopf seines Hemdes nicht geschlossen war, zeigte sich ihr sein behaarter Oberkörper und sie erblickte ein auffälliges Muttermal. Er bemerkte es wohl und während er mit der einen Hand nach einem Pilz griff, erfasste die andere Hand schnell den Knopf des Hemdes und knöpfte es zu. So, als ob sie hier zum Pilze sammeln verabredet wären, fingen sie gemeinsam an, den Korb mit Pilzen aufzufüllen. Nach und nach entwich die Anspannung von ihr.
„Was hat euch denn in diese einsame Gegend geführt?“ wollte sie nun ihrerseits wissen.
„Ich befinde mich auf dem Weg zum Königssohn eures Landes, um an den Krönungsfeierlichkeiten teilzunehmen.“
Ein tiefes Seufzen entwich ihr, welches dem Fremden nicht entging und wie nebenbei fragte er:
„Seid ihr auch eingeladen?“
Sie musste mit einem „Nein“ antworten und spürte einen Stich durch ihr Herz gehen.
Oh, wie gern wäre sie dabei! Ahnte es der Mann neben ihr? Er hatte etwas unheimlich Wissendes an sich. Ihr Gefühl signalisierte ihr, vorsichtig zu sein. Weshalb war er wirklich hier, ausgerechnet in dieser Vollmondnacht? Suchte er vielleicht die Blüte, die sie gerade unter ihrer Jacke trug?
Während sie versuchte, ihre Gedanken zu ordnen und Ruhe zu finden, lächelte sie der Unbekannte unentwegt an, überschüttete sie mit Komplimenten über ihr himmlisches Aussehen und verglich sie mit einem Engel. Nicht, dass sie dies nicht gern hörte, aber leider kamen die Komplimente aus dem falschen Mund. Kämen sie aus dem Mund des Mannes, den sie begehrte, wie glücklich würde sie sich fühlen.
Der junge Königssohn war es, der ihr über alles gefiel. In ehrlichen Stunden gestand sie sich ein, dass sie ihn verliebt war. Wie töricht von ihr! Nicht nur, weil er ein Königssohn war und sie ein einfaches Mädchen. Nein, als viel schlimmer empfand sie die Tatsache, dass sie um einige Jahre älter war, als er. Ihre Chancen bei dem Prinzen standen denkbar schlecht! Trotzdem hoffte sie. Sie wusste, dass der Königssohn sie heimlich beobachtete, wenn sie am Hintereingang der Schlossküche ihre Kräuter ablieferte.
Mittlerweile war der Korb randvoll mit Pilzen gefüllt, ihr offizieller Vorwand sich zu dieser späten Stunde im Wald aufzuhalten, somit erledigt. Der Mann neben ihr wirkte erschöpft und sah jetzt noch älter aus.
„Schönes Fräulein, würdet ihr so freundlich sein und mir den Weg zum Schloss zeigen? Ich habe mich hoffnungslos verirrt“, bat er sie.
Ungern und stumm willigte sie ein. Ohne ein weiteres Wort zu wechseln, gingen sie ein Stück des Weges. Plötzlich stieß ihr Begleiter einen grellen Pfiff aus. Ein stattliches Pferd sprengte direkt auf das Mädchen zu. Sie wollte beiseite springen, stellte sich aber in ihrem Erschrecken ungeschickt an und stürzte hin.
Mit einem merkwürdigen freudigen Gesichtsausdruck half ihr der alte Mann auf, verabschiedete sich äußerst charmant von ihr, stieg auf das wartende Pferd und war seltsam schnell verschwunden.
Erleichtert setzte sie sich auf einen der umgestürzten Bäume. Eine Weile wartete sie noch, versicherte sich dann, dass sich niemand in ihrer Nähe befand und holte die Blüte aus ihrer Bluse hervor. Doch was war das? Sie konnte es nicht glauben! Wie von einem Messer durchtrennt, lag nur noch die Hälfte der Blüte in ihrer Hand. Der Schreck darüber versteinerte sie beinah.
Wer war dieser Mann? Sie hatte ihn hier in der Gegend noch niemals gesehen. Es beschlich sie die Vorahnung, dass sie dem Unbekannten nicht zum Letzten mal begegnet war und Unheil von ihm ausgehen würde.

Unter der Obhut der aufgehenden Sonne lief sie, ihren Gedanken nachhängend, durch den Wald. Plötzlich stellte sie fest, dass sie von ihrem Weg abgekommen war, denn sie stand vor den Resten eines alten Holzkohlenmeilers. Ihr wurde schwarz vor Augen. Ein leichter Schwindelanfall erfasste sie. Schnell ließ sie sich in das weiche Moos fallen. Obwohl sie es gar nicht wollte, überkamen sie die Erinnerungen.
Vor vielen Jahren, als kleines Mädchen, war sie das letzte Mal mit ihrem Vater an diesem Platz gewesen. Der Vater, an jenem Tag kreidebleich und aufgewühlt, stocherte am ganzen Körper zitternd, hier im Boden herum. Verängstigt fragte sie ihn, was ihn beunruhige. Aber ihr Vater war Zeit seines Lebens ein schweigsamer Mann und so erhielt sie auch diesmal keine Antwort. Genau so wenig, wie auf ihre immer wieder gestellten Fragen nach ihrer Mutter, Isabel.
Sie wusste lediglich, dass ihre Mutter starb, kurz nachdem sie zwei Jahre alt geworden war. Damals gab der Vater seinen Beruf als Köhler auf, damit er sie großziehen konnte. Er wollte aus irgendeinem Grund auf keinen Fall mit seiner Tochter im Dorf leben. Mitten im Wald baute er eine Hütte für sie beide. Um ganz und gar vom Dorf unabhängig zu sein, legte er einen kleinen Gemüsegarten an, kaufte eine Ziege, ein Schwein und ein paar Hühner. Seinen letzten und einzigen Kohlenmeiler betrieb er hier an dieser Stelle.
Von klein auf half sie ihrem Vater bei allem, führte den Haushalt so gut sie konnte, versorgte den Garten und die Tiere. Sogar bei der Köhlerei ging sie ihm zur Hand. Sie mochte den Geruch des schwelenden Holzes und dessen Verwandlung in Kohle. Daher rührte wohl ihre Vorliebe für Verwandlungen. Jedoch, am meisten liebte sie es, stundenlang im Wald umher zu streifen und die Pflanzen und die Tiere zu beobachten.
Als der Vater auf dem Sterbebett lag, nahm sie ihren ganzen Mut zusammen und fragte ihn nochmals nach ihrer Mutter. Vergeblich, wieder erfuhr sie nichts. Aber mit den Worten: „Deine Mutter hätte es gewollt, dass du die Sachen bekommst“, übergab er ihr einen Schlüssel. Der gehörte zu der geheimnisvollen Truhe, für die sie sich von klein auf interessierte.
Mittlerweile fühlte sie sich wieder besser und beeilte sich, in ihre Hütte zu kommen, in der sie nach dem Tod des Vaters alleine lebte. Wo sollte sie auch hin? Sie kannte kein anderes Leben. Außerdem besaß sie hier alles, was sie zum Leben brauchte.
Schon erreichte sie ihren Lieblingsplatz, die kleine Quelle, welche nicht unweit der Hütte entsprang und von der sie glaubte, dass aus ihr ein besonderes Wasser sprudelte. Hier zu verweilen, blieb ihr keine Zeit. Nur der Kröte winkte sie noch flüchtig zu.
Ihr Kater sprang ihr entgegen, schlich unruhig um sie herum und seine Augen erinnerten sie an diese grünen Augen aus dem Wald. Sie nahm das Tier auf die Schulter und betrat endlich ihr Reich - ihr kleines bescheidenes Gehöft. Im Stall meckerte die Ziege ungewöhnlich laut vor sich hin. Schnell ging sie zu ihr, streichelte ihr über den Rücken, band sie von ihrem Strick los und ermahnte sie, nicht in den Gemüsegarten zu springen. Das quiekende Schwein ließ sie ebenfalls aus dessen Bucht.
Auf dem Weg zur Hütte, zog sie einen Holzscheit aus der Vorratswand hervor und erschrak. Der Stapel rutschte ihr unter den Händen weg. Was ist heute bloß los? Ihr Blick wanderte über den Hof. Aber so sehr sie sich anstrengte, außer, dass selbst ihre herum streunenden Hühner unruhig wirkten, konnte sie beim besten Willen nichts Ungewöhnliches erkennen.
Zögernd betrat sie die Hütte, schloss die Augen und konzentrierte sich einen Augenblick, denn sie wollte prüfen, ob während ihrer Abwesenheit irgendjemand hier drinnen gewesen sei. Tatsächlich, ein ihr fremder, wenn auch nicht unangenehmer Geruch hing im Raum fest. Instinktiv griff sie nach ihrem selbstgesammelten Waldweihrauch, verteilte ihn auf dem Holzscheit und legte diesen oben auf das Feuer im Herd. Dann schaute sie sich um und fand nichts Sonderbares. Alles machte einen unberührten Eindruck. Selbst die Kiepe mit den schon vorbereiteten Kräutern für die Schlossküche stand noch an ihrem Platz.
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