Er sah jedoch, dass er nahe daran war, mit den Regeln, die er sich selbst gesetzt hatte, zu brechen. Obwohl idealisiert, waren seine Empfindungen überraschend stark und von einer Art, wie sie von einem verheirateten Mann nicht gehegt werden sollten. Wenn sie ihn dazu brachten, einer Frau aus Fleisch und Blut meilenweit durch die Straßen Londons zu folgen, sich sogar Zugang zu ihrem Haus zu erzwingen und sich zum Narren zu machen, so waren es erst recht keine Empfindungen, denen ein Mann wie er, in Amt und Würden und auf seine Karriere bedacht, nachgeben durfte. Er musste den Traum wie ein Geschwür herausschneiden. Basta! Einen Vorgeschmack möglicher Komplikationen hatte er bereits bekommen, zum Glück hatten sie nicht allzu viel Ärger mit sich gebracht und waren sanft entschlafen.
Nun, es hatte eine Schwester im Krankenhaus gegeben, dann eine Medizinstudentin in einer der Kliniken, und schließlich eines der Mädels von Miss Humphrey. Die beiden ersten ahnten nicht, welche Gefühle sie in ihm geweckt hatten; die dritte jedoch, das kleine Biest, hatte es darauf angelegt, ihn kirre zu machen, was ihr mit größter Leichtigkeit gelungen war. Auf ewig würde er sich dafür schämen, aber mehr noch wundern. Als er erkannte, was los war, war er schnurstracks in die Höhle der Löwin im Souterrain marschiert und hatte Miss Humphrey erklärt: „Einer von uns beiden geht – das Mädchen oder ich – und zwar auf der Stelle!“, und der verdutzten und entrüsteten Wirtin die restlichen Monatslöhne für das Mädchen ausgehändigt.
Sich von seiner neuen Sucht zu befreien, war schwieriger. Monatelang hatte er ihre Gesellschaft genossen, ja, er hatte sie geradezu kultiviert. Wenn auch nur ein Fantasiegebilde, so hatte sie doch ein feines Gespinst um die Wurzeln seines Seins gewoben. Aber wie Napoleon hatte er sich antrainiert, die Schubladen seines Geistes zu schließen. Er knallte sie zu, läutete nach dem Abendbrot und machte sich an die Vorbereitung eines Vortrags. Als das Abendbrot kam, aß er mit der einen Hand, mit der anderen machte er sich Notizen – die wilden Tiere aus Ephesus mussten heute in ihren Käfigen bleiben.
Er arbeitete bis spät. Als er vor dem Zubettgehen das Fenster öffnete, sah er durch den sich auflösenden Nebel, dass die Kirche auf der anderen Seite des Flusses immer noch erleuchtet war. Er drehte sich um und versuchte, die Geschichte aus seinem Kopf zu verbannen, indem er sich an einige Punkte seines Vortrags klammerte – aber als er die Nachttischlampe ausknipste, wusste er, dass seine Chance einzuschlafen genauso gering war wie die, zum Mond zu fliegen. Er hatte einen harten Tag vor sich und am Abend eine Ansprache als Präsident; die Aussichten für den nächsten Tag waren also nicht rosig.
Flach auf dem Rücken liegend, die Arme über das Gesicht gelegt, versuchte er, seine Gedanken unter Kontrolle zu bringen. Aber es war zwecklos – die wilden Tiere von Ephesus waren außer Rand und Band und rüttelten an den Gitterstäben.
Er stand wieder auf und ging in seinem dünnen Pyjama zu dem weit geöffneten Fenster, wo sich die letzten Nebelfetzen feucht Zugang zu seinem Zimmer verschafften. Unwillkürlich schaute er über den Fluss. Das Licht in der Kirche auf der südlichen Seite war erloschen – er konnte seine Lady haben, wann immer er wollte, er brauchte nur der Versuchung nachzugeben. Erneut ging er zum Bett zurück, setzte sich auf die Kante – die Ellbogen auf den Knien, den Kopf in den Händen – und stöhnte. War sie nicht besser als die wilden Tiere von Ephesus? Aber das war alles Unsinn, reine Spitzfindigkeit. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie in Ephesus endete.
Er musste das Geschwür herausschneiden – herausschneiden!
Plötzlich erblickte er durch die Finger, die sich gegen die Augäpfel pressten, die verhüllte Frau – von Angesicht zu Angesicht. Direkt vor ihm stand sie im Zimmer und sprach ihn an:
„Mach dir keine Sorgen. Es ist alles in Ordnung.“
Er hob den Kopf, schwindelig, schwitzend, erschüttert, aber sie war fort. Sie war gegangen, wie sie gekommen war.
Wie Espenlaub zitternd, spürte er, dass der Schweiß seine Brust hinunterlief und die dünne Pyjamajacke am Rücken klebte. Immerhin hatte er noch genügend Verstand, keine Lungenentzündung zu riskieren, wälzte sich ins Bett und schnaufte. Als es ihm endlich zwischen den Decken warm wurde, überfiel ihn ein ungewöhnliches Gefühl von Frieden. Muskel für Muskel entspannte sich der Körper des überreizten Mannes. Er drehte sich auf die Seite, und fast schon eingeschlafen, hatte er das Gefühl, den Kopf nicht in einem Kissen zu bergen, sondern an der Schulter einer Frau.
***
3
Am Morgen danach hatte sich der Nebel verflüchtigt, und Frühling lag in der Luft. Die Patienten und Kollegen im Krankenhaus fanden ihr Untier von Arzt außergewöhnlich jugendlich und sanft, was niemand mehr verwunderte als ihn selbst, denn wer wusste besser, welches Chaos Stürme wie die der vergangenen Nacht normalerweise hinterließen. Er bemühte sich, den Studenten zu helfen und ihnen Erklärungen zu geben, anstatt sie wie sonst für fehlende Kenntnisse anzuschnauzen. Es gelang ihm sogar, den Patienten gegenüber grimmige Herzlichkeit an den Tag zu legen.
„Der alte Herr ist verliebt“, lautete der scharfsinnige Kommentar der Studenten, aber sie hatten keine Ahnung, wie weit Dr. Rupert Malcolm davon entfernt war, verliebt zu sein, und dass die Dame ihn wie einen streunenden Hund aus dem Haus gejagt hatte und er sie für immer aus seinen Gedanken und seinem Leben verbannt zu haben glaubte.
Dennoch war sie dort – ständige Begleiterin seiner Schritte. Da er ihr Gesicht nicht gesehen hatte, konnte er seiner Fantasie freien Lauf lassen. Er, ein hellhäutiger Mann, stellte sie sich mit olivfarbener Haut vor – wenn auch nicht als geschmeidiges junges Mädchen. Sogar durch den schleierartigen Umhang hatte er erkennen können, dass sie nicht jung war. Er, ein vom Leben gebeutelter Mann in den besten Jahren, hatte mit jungen Mädchen nichts im Sinn – wohl aber mit einer Frau in der Blüte ihrer Schönheit. Er versuchte, sich an Bilder zu erinnern, die ihr ähnelten, indem er seinen misslungenen Besuch in der Nationalgalerie wieder aufleben ließ. Dann beschloss er, noch einmal dort hinzugehen und nach einem Bild zu suchen, das sie für ihn verkörpern würde, denn er war sicher, sie nur unter den Werken alter Meister zu finden. Für eine Dame der Gesellschaft war sie zu dynamisch und zu natürlich; und zu fein und zu kultiviert für eins der Mannequins oder Models.
Während die Gedanken durch seinen Kopf rasten, sah er ihr Gesicht plötzlich klar vor sich – oval, blass, von schwarzen Haaren eingerahmt. Ihre Augen waren dunkel und mandelförmig, ihre Nase leicht gebogen, ihr Mund nach der neusten Mode scharlachrot geschminkt. Ihre Augen sahen ihn an, in einem samtartigen Braunton, sanft und unergründlich. Er konnte weder sagen, was sie dachte noch sich die Persönlichkeit hinter diesen Augen vorstellen. Sie blieb reserviert, ihr Inneres verbergend; dennoch strahlte sie eine Güte aus, die für den einsamen Mann unendlichen Trost barg.
Für seine Kollegen unvorstellbar, hegte er tief im Herzen eine seltsame Vorliebe für Märtyrertum. Erst wenn er bis zum Rand der Erschöpfung gearbeitet, sich den geringsten Luxus versagt und persönliche Opfer gebracht hatte, war sein Gewissen beruhigt. Als junger Mann war seine Wahl auf ein hübsches hilfloses Klammeräffchen gefallen, das er lieb haben und beschützen konnte. Jetzt war er älter, ein wenig müde, und sein Traum hatte sich verändert; immer noch wollte er sich aufopfern, aber nicht mehr auf die Suche nach Drachen gehen; und er wollte keine Klammeräffchen mehr, keine notleidenden Mädchen, um sein Ideal der Männlichkeit leben zu können. Jetzt wollte er sich anders opfern; sich in die Hände einer besitzergreifenden Frau begeben, die Forderungen stellte. Den Märtyrer zu verkörpern, war er leid. Früher hatte ihm dieses Leben Befriedigung geschafft. Jetzt, da die Illusionen in Bezug auf seine Frau verschwunden waren, hatte es für ihn seinen Reiz verloren, und er schreckte vor dem Schmerz zurück, weitere ungewollte Opfer zu bringen. Bevor er sich noch einmal auf den Altar legen würde, wollte er genau wissen, was von ihm als Opfer verlangt wurde.
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