In der mondbeschienenen Straße war alles ruhig, auch in dem muffigen Haus, als er sich über den Treppenschacht beugte und lauschte. Die kleine Miss Humphrey, seine Wirtin, wie immer um ihn besorgt, würde zu ihm hocheilen, wenn etwas nicht stimmte. Da sich nichts regte, ging er wieder zu Bett mit dem Gedanken, die schreiende Frau müsste entweder tot, gerettet oder ein Phantom seiner Fantasie gewesen sein.
Am nächsten Tag wurde er lange im Krankenhaus aufgehalten. Wenn auch durch die unterbrochene Nachtruhe müde, war sein Geist doch ruhig. Obwohl es spät war, entschloss er sich, wieder zu Fuß nach Hause zu gehen. Es war inzwischen zum Ritual für ihn geworden, und nichts hätte ihn davon abhalten können.
Es herrschte die gleiche Stimmung wie bei dem ersten Spaziergang am Themse-Ufer, aber an diesem Abend schien seine Wallfahrt eine besondere Realität zu haben. Während des Spaziergangs machte er sich Gedanken darüber, welche Art Ehemann er wohl abgegeben hätte, wenn seine Ehe normal verlaufen wäre: anspruchsvoll, ungestüm, eifersüchtig; aber er hätte das leichtherzige, kleine Geschöpf, das er geheiratet hatte, mit Liebe überhäuft. Zum ersten Mal wurde ihm klar, dass seiner Ehe auch dann kein Erfolg beschieden gewesen wäre, wenn ihnen die Katastrophe mit dem Kind erspart geblieben wäre, und das erleichterte und befreite ihn. Als die Bürde von seinen Schultern fiel, sah er etwa zwölf Fuß vor sich die verhüllte Gestalt einer Frau –, nicht in der Fantasie, sondern in Wirklichkeit.
Er schwankte wie betrunken, doch dann fasste er sich wieder. Die Realität besaß nicht dieselbe Faszination wie die Fantasie, außerdem war es mehr als unwahrscheinlich, dass dies die Trägerin des Mantels war, die ihn in seine Träume geschickt hatte.
Seinen Weg fortsetzend, beobachtete er amüsiert die verhüllte Gestalt. Es gab keinen Grund, Aufheben um eine Frau in einem Regenmantel zu machen. Dann fiel ihm plötzlich wieder das Tempo auf, mit dem sie ging. Es musste die Gestalt in dem Umhang aus dem Traum sein, denn nur wenige Frauen schritten so forsch aus. Durch einen Sprint verkürzte er den Abstand. Jetzt konnte er beobachten, wie sie sich bewegte. Von Haltung und Gang verstand er etwas, schließlich war es sein Beruf, aus diesen Komponenten seine Diagnosen zu stellen. Sie glitt in einer schwingenden Bewegung, die sich wie eine Welle vom Fußballen bis zur Hüfte ausbreitete, über den Boden, wobei die Falten des Capes um die breiten Schultern wie ein Pendel schwangen. Nie zuvor hatte er einen Menschen gesehen, der sich so harmonisch bewegte. Seine romantischen Anwandlungen einen Augenblick vergessend, beobachtete er ihren Gang mit beruflichem Interesse und verfolgte die perfekte Koordination eines jeden Muskels in dem sich rhythmisch bewegenden Körper. Ihre Figur konnte er nicht erkennen, denn die Falten des Umhangs verdeckten alles, ihren Gang jedoch würde er nie vergessen.
Dann schoss ihm ein Gedanke durch den Kopf, der so verrückt war, dass er ihn sofort wieder verwarf. Das, was er vorhatte, war für einen Mann seines Standes undenkbar. Außerdem verbarg sich hinter seinem robusten Äußeren und seinem brüsken Benehmen ein schüchterner Pennäler. So schritt er tüchtig aus, bis ihn die Ampel erneut austrickste und er die Gestalt aus den Augen verlor.
Er raste die Stufen zu seinem Zimmer hinauf, riss den Vorhang zur Seite und starrte über den Flug. Genau in dem Moment wurde die dunkle Fassade der Kirche auf der anderen Seite des Wassers in Licht getaucht. ,Eines Abends‘, sagte er sich, ,werde ich über die Brücke zu der Kirche gehen. Ich will endlich wissen, welche Sekte ihrem Kult so launenhaft frönt.‘ Aber er war so beschäftigt, dass er vorübergehend seine Spaziergänge am Themse-Ufer aufgab. Seine Vision brachte ihn dennoch Nacht für Nacht mit treuer Regelmäßigkeit in den Schlaf. Er brauchte sie sich gar nicht mehr vorzustellen, denn sobald er seinen Kopf auf das Kissen legte, kam sie von selbst.
Er hatte an einer Versammlung des Verwaltungsrats des Krankenhauses teilgenommen, dem er als Mitglied angehörte. In einflussreichen Kreisen hatte man sich über seine Manieren und Methoden beschwert. Die Sache war aufgegriffen worden, so taktvoll wie möglich, aber immerhin, genau zu dem Zeitpunkt, als der Arzt seiner Frau ihn gebeten hatte, seine unerwünschten Besuche einzustellen, und so hatte er bestürzt, verwirrt und gedemütigt feststellen müssen, dass er andere aufgeregt und sich unbeliebt gemacht hatte. Das Gremium, dem davor gegraust hatte, eines seiner Mitglieder einen Maulkorb zu verpassen, war verwundert, als er seine Kollegen bat, ihm zu sagen, was er falsch gemacht habe. Er nahm ihnen den Wind aus den Segeln, und die Sache endete damit, dass man ihm versicherte, er hätte nichts falsch gemacht. Man beruhigte und besänftigte ihn, lehnte sich, nachdem er wie üblich überstürzt verschwunden war, im Stuhl zurück und schaute sich verwundert an.
Als er das Krankenhausviertel verließ, war es neblig, aber das änderte nichts an seinem Entschluss, zu Fuß nach Hause zu gehen. Nichts konnte ihn so beruhigen und trösten wie die eingebildete Gegenwart seiner Fee. Wenn ein Mann ein Vierteljahrhundert sein Bestes gegeben hat und man ihm plötzlich sagt, es wäre nicht gut genug, dann stürzt die Welt für ihn ein.
‚Was tue ich nur‘, fragte er sich, ‚was die Menschen so aufregt oder aufbringt? Den gesellschaftlichen Aspekten des Krankenhauslebens entsprach er nicht, aber er hatte seine Pflicht nach bestem Wissen und Gewissen erfüllt. Er versuchte, sich mit der Erinnerung an seine außergewöhnlichen Erfolge zu trösten. Viele Patienten waren von seinen Kollegen aufgegeben worden. Er hatte sie gerettet! Zählte das etwa nicht?
Verletzt, durcheinander, sein Selbstvertrauen bis auf den Grund erschüttert, schritt er langsamer, als er wollte, und während er weiterging, sah er die verhüllte Frau wie im Traum an sich vorbeieilen.
Einen Augenblick stand sein Herz still. Dann begann es zu trommeln. Anstatt der üblichen zwölf Fuß war sie nur knapp drei Fuß vor ihm, und selbst in dem Nebel, der immer stärker wurde, konnte sie ihm nicht entkommen. Er holte so nah auf, wie er es wagte. Bei der ersten Ampel war er neben ihr. Ein schwerer hochgeschlossener Pelzkragen und ein breitkrempiger Schlapphut verbargen ihr Gesicht, Dennoch ließ ihn der Gedanke, ihr so nahe zu sein, erschauern. Er überquerte die Straße beinahe auf gleicher Höhe mit ihr, fand es jedoch ratsam, ein wenig zurückzufallen, damit sie ihn nicht bemerkte, und ärgerte sich im selben Moment darüber.
So gingen sie hintereinander, am Savoy vorbei, am Tempel, an Westminster. Sie hielt auf die alte Kettenbrücke zu, und Malcolm zögerte. Selbst in dem Nebel gab es genügend Spaziergänger an dem Themse-Ufer, um seine Gegenwart unverdächtig scheinen zu lassen, aber es war unwahrscheinlich, dass er ihr über die Lambeth-Bridge folgen konnte, ohne von ihr bemerkt zu werden. Nichts in seinem Verhalten gab Anlass für eine Beschwerde, selbst wenn sie ihn bemerken würde. Seine Schuhe hatten Gummiabsätze. Trotz seines stämmigen Körpers konnte er leise auftreten, und so beschloss er, sein Glück zu wagen.
Während sie der Mitte der Brücke zustrebten, wurde der Nebel dichter und dichter. Plötzlich durchzuckte es ihn – er benahm sich wie ein Lustmolch. Wenn die Frau ihn entdeckte, würde sie sich zu Tode erschrecken, und jetzt tat er genau das, was man ihm im Krankenhaus vorgeworfen hatte, dabei war sie doch die Letzte, die er erschrecken wollte.
Aber sie ging, ohne sich umzudrehen, weiter, und schon hatten sie die Mitte der Brücke erreicht. Einige Minuten später hörte er, wie sich, als sie das Kopfsteinpflaster der Brücke verließ und die südliche Seite des Themse-Ufers erreichte, der Klang ihrer Schritte änderte. In dem Moment, als er feststellte, wie nahe er ihr im Nebel gekommen war, spürte er die Straße unter seinen Füßen.
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