Er packte alles aufs Tablett, worauf Anna schon Tassen und Kanne gestellt hatte, und folgte ihr zum Wohnzimmer. In der Tür blieb sie wie angewurzelt stehen, was Viktor bedrohlich schwanken und die Tassen zudem klirren ließ, als er mit dem vollbeladenen Tablett in der Hand bei ihr anstieß.
»Was ist denn los? – Oh.«
Mit dem Zeigefinger auf ihren Lippen deutete Anna ihm, still zu sein. Auf dem Sofa lag sein Vater lang ausgestreckt und schlief.
»Und jetzt?«, flüsterte sie.
Viktor nickte mit dem Kopf gen Treppe. »Lass uns nach oben gehen«, hauchte er.
»Das braucht ihr nicht. Ich bin wach und könnte auch einen Schluck Tee vertragen.« Vitus richtete sich auf und bedachte beide mit einem strahlenden Lächeln.
***
Wenig später saßen die drei gemeinsam am Wohnzimmertisch, tranken Tee und knabberten Kekse.
»Ich habe übrigens mehrmals geklingelt und euch gedanklich gerufen – euch beide«, erklärte Vitus, während er misstrauisch den Amarettini in seiner Hand beäugte, ihn dann aber ohne viel Federlesens und achselzuckend verspeiste. »Schließlich habe ich euch versprochen, nicht mehr einfach so, ohne Vorwarnung, hier hereinzuplatzen. Es war halt eine spontane Idee, euch zu besuchen. Außerdem bin ich, ehrlich gesagt, viel zu müde, um noch kehrtzumachen. Tut mir sehr leid.«
Vitus schaute allerdings keineswegs reumütig drein, sondern grinste süffisant.
Mittlerweile hatte Anna es sich abgewöhnt, solche Situationen peinlich zu finden. Fast! Allmählich gewann sie den Eindruck, dass so etwas unter Elfen und auch Halbelfen andauernd vorkam. Vitus hatte schon des Öfteren mitbekommen, wie sich sein Sohn mit ihr oben in seinem Zimmer »beschäftigte«. Sie wusste, dass er sich überhaupt nicht daran störte und es zudem gar nicht peinlich fand.
Obwohl ihr klar war, dass Vitus seinen Geist vor den Liebenden verschloss, um somit deren Privatsphäre zu wahren, hatte sie dennoch Probleme damit. Deshalb konnte sie die wieder einmal in ihr aufsteigende Röte nicht verhindern. Das hielt sie allerdings nicht davon ab, Vitus genauestens zu mustern:
Mit seinen knapp achtunddreißig Jahren war er ein Mann im besten Alter und sah in ihren Augen unverschämt gut aus – nicht so gut wie Viktor natürlich.
Mit seinen einen Meter und fünfundneunzig, schätzte Anna, war Vitus noch größer als Viktor. Sein langes rabenschwarzes Haar band er meist mit einer Lederschnur zurück. Was Anna allerdings bereits beim ersten Kennenlernen gefangengenommen hatte, waren Vitus’ Augen. Sie strahlten in einem unwirklich blauen Grün, schimmerten heller als die Nordsee bei Sonnenschein. Sie hatten die Farbe von südlichen Meeren, so wie das Mittelmeer auf den Bildern, die Lena ihr von Mallorca gezeigt hatte.
Vielleicht ähnelten sich Vater und Sohn nicht übermäßig. Dennoch gab es so manche Gemeinsamkeiten: der muskulöse Körperbau, die geraden Brauen und das Lächeln mit den unwiderstehlichen Grübchen, dem Anna bei Viktor nie widerstehen konnte, und das sie an Vitus beinahe ebenso anziehend fand.
Derzeit machte er jedoch einen ausgesprochen abgespannten Eindruck. Dunkle Schatten lagen unter seinen Augen, um die herum immer noch rote Flecken prangten, wie auch auf der rechten Wange und auf der Stirn. Alle hervorgerufen durch das glühende Gift, das Kana ihm vor Wochen direkt ins Gesicht gespuckt hatte.
»Du siehst müde aus«, stellte Anna fest. »Ich hatte gehofft, du hättest dich allmählich von Kanas Angriff erholt.«
»Doch, doch, es geht mir gut, danke. Ich bin nur ein wenig erschöpft, weil ich Kanas Brüdern im südlichen Elfenreich einen weiteren Besuch abstatten musste. Leider waren die nicht gerade begeistert über mein erneutes Erscheinen.« Er seufzte. »Ich wollte ihnen unbedingt erklären, wie und warum ihre Schwester zu Tode gekommen ist. Es brauchte einige Zeit, sie davon zu überzeugen, mich anzuhören. Atros und Mitris sind furchtbar anstrengend. Letztlich hat sich meine Hartnäckigkeit dann aber ausgezahlt und ich habe sie dazu überreden können, Einblick in meinen Geist zu nehmen. Jetzt glauben sie mir. Endlich!«
Vitus lächelte schwach. »Unsere irischen Freunde hatten damals durchaus recht damit, die beiden als Hohlköpfe zu bezeichnen. Sie sind wirklich äußerst einfach gestrickt, wie ihr Menschen so schön sagt, sogar noch einfacher, als ich sie in Erinnerung hatte.« Er machte eine kurze Pause, um einen Schluck Tee zu trinken. »Doch nun ist alles gut.«
»Ich könnte mir vorstellen, dass das südliche Elfenvolk heilfroh ist, nicht mehr unter Kanas und Kaouls Knute zu stehen«, meinte Viktor.
»Das kannst du wohl laut sagen«, erwiderte Vitus. »Vorsichtshalber habe ich den Brüdern noch ein paar Ratschläge gegeben, damit sie wissen, wie sie sich künftig zu verhalten haben, um sowohl ihrem Volk als auch ihren Ehefrauen keine Schande mehr zu machen. Ich denke, sie haben verstanden, dass ich sie weiterhin im Auge behalte.«
Nun grinste er breit. »Tja, und die beiden zuvor so oft betrogenen Ehefrauen sind ohnehin auf meiner Seite. Wie sie mir erzählt haben, hatte sich Kaoul einen üblen Scherz mit der Männlichkeit der Brüder erlaubt. Jetzt sind die Frauen einfach nur heilfroh, dass dieser Zauber nach Kaouls Tod von ihren Männern abgefallen ist. – Ja, mit etwas Unterstützung durch ein paar von mir instruierte Berater, werden Atros und Mitris ihr Land ganz ordentlich regieren.«
Vitus griff sich den letzten Butterkeks aus der Schale und betrachtete ihn angewidert.
»Können wir nicht Pizza bestellen?«
Am Sonntagabend saß Anna wieder einmal am Schreibtisch und versuchte sich an den restlichen Hausaufgaben für den kommenden Schultag. Als sie erneut in Träumereien abdriftete, fing sie zu kichern an. Ihr Nacken kribbelte und ein wohliger Schauer lief ihr über den Rücken. Viktors warmes Bett, seine Leidenschaft und all die Dinge, die er mit ihr tat und wie er sie mit ihr tat, weckten in ihr eine schier unermessliche Lust. Und sie hatte dabei nicht nur das Bedürfnis, diese Lust zu stillen, sondern sie auch an ihn weiterzugeben. Dieses gegenseitige Geben und Nehmen ließ Anna Grenzen überschreiten, von denen sie gar nicht gewusst hatte, dass es sie gab.
Da sie befürchtete, Viktor könnte aufs Neue in ihrem Kopf herumstöbern, verschanzte sie eilig ihren Geist. Sie liebte ihn wirklich sehr, aber er brauchte ja nicht alles von ihr zu wissen. Sie schüttelte den Kopf, als versuchte sie, damit Ordnung darin zu schaffen, und es gelang ihr.
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