Der kräftige Wind hatte den Bäumen bereits allerhand Blätter gestohlen und am Boden zu einem raschelnden Teppich aufgeschichtet. Auf dem verschlungenen Waldweg knisterte es geheimnisvoll, als sie zu Annas kleiner Lichtung schlenderten, um dort wie jedes Mal in leidenschaftlicher Umarmung innezuhalten.
Da Anna zitterte, zog Viktor ihre Jacke fester zu und wickelte ihr seinen Schal um.
Allmählich wird es merklich kühler, überlegte er und grinste verstohlen bei einer ganz bestimmten Erinnerung, die ihm in den Sinn kam:
… Noch vor einem Monat war es hier herrlich warm und er konnte nicht widerstehen, Anna auf dem weichen Moosbett unter der Birke nach allen Regeln der Kunst zu verführen. Zuerst sträubte sie sich, weil sie befürchtete, jeden Moment von Fremden überrascht zu werden. Dass Vitus die Lichtung schon Wochen zuvor mit einem Schutzbann belegt hatte, um Fremde von dort fernzuhalten, hatte Viktor ihr verschwiegen. Besonders, als er bemerkte, dass sie, trotz aller Vorbehalte, bei seinen Berührungen mehr und mehr wegschmolz, bis sie sich ihm bedingungslos hingab.
Himmel, er war berauscht von ihrer Sinnlichkeit, immer wieder aufs Neue.
Später, in seinem Zimmer, beichtete er ihr, dass sie aufgrund der Schutzbarrieren niemand beim Liebesspiel hätte beobachten können. Daraufhin stürzte Anna sich mit geweiteten Augen auf ihn, schimpfte ihn einen »perversen, üblen Lustmolch«, schubste ihn aufs Bett und verspeiste ihn letztendlich mit Haut und Haar. …
»Viktor?« Er sah in ihre amüsiert funkelnden Augen. »Du hast geträumt. Aber glaub mir eins, Viktor Müller, mir ist es heute eindeutig zu kalt für deine durchtriebenen Spielchen hier auf unserer Lichtung.«
»Oh.« Er grinste verlegen. Manchmal vergaß er, dass nicht nur er in der Lage war, Gedanken zu lesen. Anna konnte es inzwischen auch ganz gut.
»Jaja, auch du schaffst es nicht immer, dich erfolgreich vor mir zu verschließen, du lüsterner Unhold.«
»Unhold? Was soll das denn sein?«
»Das sagt Mama hin und wieder zu Papa.« Anna kicherte. »Früher dachte ich, es würde so etwas wie Witzbold bedeuten. Google hat mich eines Besseren belehrt. Natürlich bist du kein Scheusal, genauso wenig wie Papa. Aber ich glaube, ich weiß jetzt, was Mama damit meint.« Sie streckte sich und zog ihn zusätzlich zu sich hinunter, um ihn auf die Nasenspitze zu küssen. »Lass uns zu dir nach Hause gehen, ja? Mit steht nämlich der Sinn nach Kaffee, Keksen und deinem warmen Bett.«
Viktor legte den Kopf schief. »In der Reihenfolge?« Das brachte ihm einen kräftigen Stoß in die Rippen ein. »Aua!«, lachte er, nahm sie dann aber zärtlich in den Arm. »Hhm, du riechst mal wieder so gut, Süße.«
»Ist doch nur ›Boss Orange‹. Nix Besonderes.«
»Nein, nein, das ist nicht nur dein Parfum. Das ist die ganze Anna-Mischung.«
»Na ja«, fuhr er fort, als sie ihn fragend ansah, »das ist die Anna-Spezial-Mischung, bestehend aus Anna und Parfum, Anna und Shampoo, Anna und Duschgel und, und, und. Aber vor allen Dingen aus Anna. Deinen Duft würde ich unter allen Düften des Universums wiedererkennen.«
»Wie soll das denn gehen?« Sie sah ihn erstaunt, aber auch belustigt an. »Damit könntest du ohne Weiteres bei Wetten, dass … mitmachen«, meinte sie. »Aber du redest ja sowieso ausgemachten Blödsinn, Viktor. Schließlich bis du kein Hund.«
»Hhm, aber ein halber Elfe!«
»Siehst du? Den halben Elfen hast du mal wieder vergessen. Doch eigentlich liegt es nicht daran, dass ich ein halber Elfe bin, Süße, sondern nur an dir und an deinem Wahnsinnsduft.« Dann runzelte er die Stirn. »Wetten – was ?«
Anna gluckste. »Das ist so eine Fernsehshow. Wundert mich, dass du sie nicht gesehen hast, bei deinem Fernsehkonsum. Obwohl, sie wurde abgesetzt, glaub ich.«
»Abgesetzt?«
»Ach, unwichtig. Komm jetzt. Und die Reihenfolge wegen Kaffee und Keksen und so liegt ja wohl klar auf der Hand.«
Sie lächelte ihn mit geröteten Wangen an, scheinbar erfreut darüber, dass seine Gedanken sich bei ihren letzten Worten deutlich um eine einzige Sache drehten.
»Unersättlich! Ob das wohl auch am halben Elfen liegt?«
»Nein, Süße, ganz eindeutig nicht«, beantwortete er ihre gedachte Frage. »Auch das liegt allein an dir und an deiner Unersättlichkeit .«
Er sah ihr tief in die Augen. »Genug jetzt, sonst ist es mir herzlich egal, wie kalt es hier draußen ist, und du wirst dir leider einen Schnupfen holen.«
Lachend zog er sie hinter sich her, zog sie tiefer in den Wald zum Eingang zur Elfenwelt, um kurz darauf an einem weiteren Portal wieder in die Menschenwelt einzutauchen. Dort, wo Viktorias und sein Haus stand. Das Reetdachhaus.
***
Anna wusste, dass dies mittels spezieller Worte geschah, die Viktor an bestimmten Stellen aussprach. Trotz der vielen Male, die sie das Prozedere bereits miterlebt hatte, war ihr immer noch nicht klar, wie genau das eigentlich funktionierte.
Es kam ihr stets rätselhaft vor, wie es sein konnte, dass sie so mir nichts, dir nichts, von einem Moment zum anderen nicht mehr über weichen Waldgrund wandelte, sondern über einen mit weißem Kies bedeckten und unter den Füßen knirschenden Weg. Dieser Weg wurde rechts und links von einem mit blühenden Herbststauden bepflanzten Vorgarten flankiert und wies ihr den Blick geradewegs auf das große zweigeschossige Reetdachhaus der Zwillinge. Einem Haus mit hübschen roten Naturklinkersteinen und riesigen Sprossenfenstern.
Es lag fast exakt fünfzig Kilometer weit von ihrem Zuhause entfernt und konnte trotzdem innerhalb weniger Gehminuten durch den Wald erreicht werden.
Im hellen und luftig modern eingerichteten Haus angekommen rief Viktor nach seiner Schwester und schaute sich verwundert um, als diese sich nicht meldete. Dann fand er einen Zettel auf dem Küchentisch:
Liebster Bruder!
Ich habe vergeblich versucht, durch deine frivolen Gedanken zu dir durchzudringen.
Keine Chance! – Auch nicht bei Anna!
Und der Akku von meinem ›Aifohn‹ ist anscheinend auch mal wieder leer.
Drum schreibe ich dir diese banale Zettelbotschaft:
Ketu ist vorbeigekommen, um mich abzuholen und seinen Eltern vorzustellen.
Nun müssen Vitus oder du und Jens ihm wohl doch nicht in den Arsch treten – hihi.
Wünsch mir Glück!
Bis später.
In Liebe
Deine Schwester
P.S. Gruß und Kuss an Anna!
Anna hatte den Zettel über Viktors Schulter hinweg mitgelesen.
»Frivole Gedanken? Gott, wie peinlich ist das denn schon wieder?«
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