»Nicht so schnell, nicht so schnell, Süße. Du hast schließlich angefangen, an unser Erstes Mal zu denken. Du kannst doch nicht von mir erwarten, dass ich mich ausgerechnet da zurückhalte. Außerdem habe ich schon wieder was von Mittelmäßigkeit mitbekommen. Du weißt, dass mich das sauer macht, Anna. Ich finde, ich sollte ganz schnell zu dir kommen und dich vom Gegenteil überzeugen. Los, Anna, lass mich dir helfen, dann bist du schneller fertig, bitte, bitte.«
»Viktor Müller, du sollst nicht ständig in meinem Hirn herumwuseln! Das schickt sich nicht! Warst du nicht derjenige, der seinem Vater letztens erst was von Takt und Zurückhaltung erzählt hat? Also bitte, verschwinde aus meinem Kopf und komm frühestens in einer Stunde als gestaltlicher Halbelfe zu mir, verstanden?«
»Menno!«
Anna lachte. Eigentlich sollte sie sich darüber ärgern, dass er ständig ihre Privatsphäre verletzte. Dementgegen freute sich eher und konnte ihm wegen seiner kleinen Gedankenattacken nie böse sein.
***
Viktor saß zu Hause an seinem Laptop und grinste vergnügt in sich hinein. Anna konnte einfach ihren Geist nicht genügend verschließen, um sich gegen ihn abzuschirmen, insbesondere, wenn sie an ihren Hausaufgaben arbeitete. Es bereitete ihm riesigen Spaß, dann immer mal wieder nachzuschauen, was sich in ihrem hübschen Köpfchen abspielte.
Dass Annas Überlegungen häufig um ihr gemeinsames »Erstes Mal« kreisten, freute ihn besonders. Ihm ging es ja genauso. Anders allerdings empfand er die Sache mit ihrem mangelnden Selbstwertgefühl. Daran arbeitete er schon, seit er sie damals im Wald angesprochen hatte. Harte Arbeit, wie er fand.
Aber jetzt hatte sie natürlich recht. Sie musste ihr Referat fertig schreiben. Also ließ er sie schweren Herzens in Ruhe und tröstete sich mit der Aussicht, sie in einer Stunde zu sehen.
Da aber so eine Stunde ganz schön lang werden konnte, überlegte er, was er in dieser Zeit unternehmen sollte.
Eigentlich müsste auch er sich um ernsthafte Dinge kümmern, denn er wollte sich in der Welt der Menschen behaupten und hatte sich dazu durchgerungen, an der Uni Düsseldorf ein Studium zu beginnen.
Zwar war sein High-School-Abschlusszeugnis in Wirklichkeit nur so viel wert wie die Farbe auf dem Papier, aber es genügte, um in der Menschenwelt die erforderliche Schulausbildung nachzuweisen. Das hieß natürlich nicht, er und seine Zwillingsschwester Viktoria hätten in der Elfenwelt überhaupt keine Bildung genossen. Ganz im Gegenteil, sie waren dort jahrelang intensiv sowohl in elfischen als auch in menschlichen Dingen unterrichtet worden.
Estra und Isinis, ihr Onkel und ihre Tante, hatten sich geradezu überschlagen, wenn es darum ging, ihnen menschliche Wissenschaften und Kenntnisse, auch in Kunst und Literatur, nahezubringen. Dabei gingen die beiden stets selbst in ihrer Wissbegierde auf und ließen sich im eigenen Unterricht so manches Mal zu staunenden »Oh’s« und »Ah’s« hinreißen.
Viktor liebte seine Zieheltern von ganzem Herzen, waren Viktoria und er doch bis zu ihrem achtzehnten Lebensjahr bei ihnen aufgewachsen und ebenso liebevoll behandelt worden wie deren drei eigenen Kinder.
Während dieser ganzen Zeit bekamen die Zwillinge ihren Vater, König Viniestra Tusterus, genannt Vitus, höchstens ein paar Mal im Jahr zu Gesicht und zudem dessen äußerst reserviertes Verhalten regelmäßig zu spüren.
Erst vor ungefähr zweieinhalb Monaten erfuhren sie endlich den Grund dafür, den Grund für die eigenartige Zurückhaltung des Vaters. Bis dahin ahnten sie nicht, welcher Bedrohung Vitus seit dem Tod seiner Eltern und sie selbst seit ihrer Geburt ausgesetzt waren. Ja, sie hatten nicht ahnen können, wie verzweifelt Vitus all die Zeit, seit dem Tod ihrer Mutter, versucht hatte, Unheil von ihnen fernzuhalten. Größtes Unheil, das ihn aus der Vergangenheit verfolgte und seine Kinder zu verschlingen drohte:
… Vitus lernte als junger Thronerbe des westlichen Elfenreiches die zauberhafte und ein Jahr jüngere Elfenprinzessin eines anderen Landes kennen. Er versprach ihr – geblendet von ihrer Schönheit und mit dem Segen beider Elternpaare – die Ehe. Damals war er erst vierzehn Jahre alt und erkannte nicht, dass die ganze Sache ein einziges Ränkespiel des anderen Königshauses war, nur um deren Reich zu vergrößern. Als er vier Jahre später entdeckte, welch verschlagener, bösartiger Charakter sich hinter der wunderschönen Fassade der Prinzessin Kana verbarg, war es zu spät. Kana dachte gar nicht daran, ihn von der schon bald geplanten Hochzeit zu entbinden.
Derweil verliebte sich Vitus unsterblich in eine Menschenfrau mit dem Namen Veronika Müller. Er liebte sie so sehr, dass er nur mit ihr und seinem ungeborenen Kind, welches sie unter dem Herzen trug, leben wollte und brach deshalb ohne Zögern sein Eheversprechen.
Aus purer Rache töteten Kana und ihre Familie daraufhin Vitus’ Eltern mithilfe einer uralten, grausamen Macht, der Nuurtma . Es hätten wohl noch mehr Elfen den Tod gefunden, wäre Vitus nicht damals schon aufgrund seiner außergewöhnlichen Fähigkeiten in der Lage gewesen, diese Macht eigenhändig ins Exil zu verbannen.
Dann musste Vitus den Thron übernehmen. Zu alledem starb auch noch Veronika direkt nach der Geburt der Zwillinge. Kana schwor weitere Rache, wollte ihm seine Kinder nehmen und sie töten.
Vitus hatte in schneller Folge zuerst seine Eltern und dann seine große Liebe verloren. Darüber hinaus sah er sich gezwungen, die geliebten Kinder in die Obhut des Bruders zu geben, damit sie bei ihm, innerhalb des Elfenreiches, behütet aufwachsen konnten.
All die Jahre bewachte er Tag für Tag ruhelos die Grenzen seines Reiches, allein in der Hoffnung, auf diese Art seine Familie beschützen zu können.
Trotz dieser Vorkehrungen war und blieb Kana eine stetige Bedrohung und holte sich zudem die Hilfe eines düsteren Elfenzauberers. …
Bei der Erinnerung daran, dass diese rachsüchtige Frau das Leben seines Vaters fast ruiniert und seiner Schwester und ihm, nicht zuletzt sogar Anna und deren Mutter, den Tod bringen wollte, schwoll in Viktor maßlose Wut an. Diese Wut ballte seine Hände zu Fäusten, staute sich in seiner Kehle und schrie nach Entladung.
»Hey nicht, Viktor.« Zwei schlanke Arme umschlangen seine Schultern. »Kana ist tot, nur noch ein Häufchen Asche, tief vergraben im Wald. Sie hat bekommen, was sie verdiente, genau wie ihr ekelhafter Zauberfreund Kaoul.« Viktoria gab ihm einen Kuss auf die Wange. »Grüble nicht so viel darüber. Wir haben ihnen den Garaus gemacht und es ist vorbei. Lass es endlich hinter dir. Schieb deine dunklen Gedanken beiseite. Selbst Vitus ist wieder in der Lage, fröhlich zu sein, manchmal jedenfalls.«
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