Zurzeit konnte Anna es samt Schreibtisch und altersschwachem Computer für sich allein beanspruchen, um in Ruhe ihre Schulaufgaben zu erledigen, denn Lena befand sich bei der Arbeit. Sie absolvierte eine Ausbildung zur Friseurin, ihrem Wunschberuf. Nichts für mich, dachte Anna, aber für Lena genau das Richtige.
Der Gedanke an die große Schwester entlockte ihr ein kleines Schmunzeln, weil die sich mit ihren neunzehn Jahren nun endlich von den alten Boy-Band-Postern aus der Bravo verabschiedet hatte. Die Groupie-Zeit hatte bei Lena halt ziemlich lange angedauert. Jetzt aber strahlten die Wände in frisch gestrichenem Weiß, das nur hier und da von ein paar sonnengelben Akzenten unterbrochen wurde.
Über Annas Bett hing ein großes Gemälde, welches Viktors Zwillingsschwester ihr zum siebzehnten Geburtstag geschenkt hatte. Jeder, der das Zimmer betrat, wurde augenblicklich von dem selbstgemalten Bild magisch in den Bann geschlagen. Von seinem unwiderstehlichen Charme, den fantastischen Farben und dem mystischen Motiv mit den zwei Sonnen, die wie selbstverständlich in vereinter Umarmung hinab auf einen plätschernden Bach in einer traumhaft hellen Lichtung schienen. Außer Anna und ihr Bruder wusste in der Familie niemand, dass diese Lichtung, bis auf die zweite Sonne, keineswegs einer Fantasie entsprang.
Bei der Erinnerung an ihren Geburtstag spielte Anna versonnen mit der Kette, an welcher das weißgoldene Medaillon mit den hellblauen Saphiren am Rand und den im Innern eingravierten zwei Sonnen hing. Viktor hatte es ihr geschenkt, eben zu jenem siebzehnten Geburtstag. Dem wunderbaren Tag, an dem sie mit ihm zum ersten Mal …
Sofort flatterte es in ihrem Bauch. Zu Annas Leidwesen erging es ihr häufig so, was ihr regelmäßig Probleme bereitete, sich auf die Hausarbeiten zu konzentrieren. Deshalb atmete sie erneut kräftig durch.
Doch anstatt endlich weiter an dem Skript zu arbeiten, glitt ihr Blick zum Fenster mit den duftig zarten weißen Organzagardinen und den blickdichten cremefarbenen Vorhängen an der Seite. Sie hingen dort erst seit dem gestrigen Abend und ließen den Raum sehr viel größer und heller erscheinen als vorher. Lena hatte zuerst ein bisschen gemault, weil er abends nicht mehr so gut abzudunkeln wäre wie mit den alten dunkelbraunen Chenillevorhängen, fand aber das Gesamtbild überzeugend. Typisch für ihre liebenswürdige und unkomplizierte Schwester, meinte Anna.
Schließlich schnitt sie wieder einmal den Faden zu ihren Tagträumereien ab und beugte sich vom Schreibtischstuhl weit in Richtung ihrer am Bett stehenden Schultasche hinunter, um sich das Bio-Buch zu angeln, ohne dabei aufstehen zu müssen. Dabei purzelte sie fast von dem uralten Stuhl mit Mickey-Mouse -Design, so kippelte der.
Höchste Zeit für den weißen höhenverstellbaren Polster-Stuhl, den sie sich anschaffen wollte, überlegte sie. Aber ihr Erspartes reichte noch nicht ganz dafür. So lange durfte sich Mickey Mouse noch einer Gnadenfrist erfreuen, bevor sie im Sperrmüll ihr Ende finden würde.
Anna störte es nicht sonderlich, dass ihre Eltern mehr mit dem Geld haushalten mussten als andere Leute. Deshalb machte es ihr auch nichts aus, selbst für den neuen Stuhl aufkommen zu müssen.
Nur ihre eigene Mittelmäßigkeit warf sie manchmal aus der Bahn. Viktor behauptete zwar beharrlich, dass gerade sie etwas ganz Besonderes wäre, und schwor sogar Stein und Bein darauf. Doch nagten immer wieder Zweifel an ihr und verunsicherten sie mit Fragen, wie zum Beispiel, weswegen jemand wie er Gefallen an jemanden wie ihr finden konnte. Nach Annas Dafürhalten war er nicht nur viel attraktiver als sie selbst, sondern auch tatsächlich etwas ganz Besonderes, weil er nur zur Hälfte ein Mensch war.
Sie lächelte vergnügt bei der Vorstellung, ihre Eltern und Lena würden erfahren, dass Viktors Vater, anstatt über ein riesiges Firmenimperium in Amerika zu herrschen, in Wirklichkeit ein waschechter König war. König des westlichen Elfenreiches, welches direkt neben der Welt der Menschen existierte. Außer ihr kannte in der Familie nur noch ihr zwanzigjähriger Bruder Jens das Geheimnis.
Anna schüttelte heftig den Kopf, weil sie im Geiste schon wieder zu Viktor abdriftete, und rief sich daher leicht verärgert zur Räson. Am Ende würde dieses unsägliche Referat doch nicht fertig, bevor Viktor sie fürs restliche Wochenende abholte.
Sie legte den Stift zur Seite, rückte ihre Brille zurecht und rutschte ein wenig vor, um auf dem Bildschirm ihren bislang verfassten Text durchzugehen. Erneut wackelte und kippelte es verdächtig unter ihrem Po, was allerdings statt Verärgerung nur Vorfreude auf den neuen Stuhl hervorrief.
Sie würde mit Lena reden müssen, dass künftig auf keinen Fall eins ihrer Haarfärbemodelle darauf Platz nehmen dürfte. Lenas Farbexperimente hatten so manchen hässlichen Fleck auf Mickey Mouse hinterlassen. So etwas wollte Anna für die Zukunft tunlichst vermeiden. Mit dem schicken weißen und zudem fleckenlosen Stuhl würde das Zimmer in ihren Augen perfekt aussehen. Natürlich nicht so perfekt wie Viktors.
Sie seufzte und nahm resigniert die Finger von der Tastatur, weil sie schon wieder an ihn dachte und ihr das Schreiben dadurch schwerfiel.
Wenn sie sich nicht allmählich beeilte, würde das nichts mehr mit dem Referat. Außerdem befürchtete sie, Viktor könnte bemerken, was in ihrem Kopf vor sich ging. Obwohl er nur eine Halbelfe war, hatte er seine empathischen und telepathischen Fähigkeiten in der letzten Zeit derart verfeinert, dass sie ihre Gedanken- und Gefühlswelt kaum noch vor ihm verbergen konnte.
Zwar war auch sie inzwischen in der Lage, seine Gedanken zu erspüren, aber so wie ihm würde es ihr wohl niemals gelingen. Es grenzte ohnehin an ein Wunder, dass sie und sogar Jens über solch elfische Gaben verfügten.
Bislang hatte sie über den Grund dafür kaum nachgedacht. Auch jetzt fehlte die Zeit dazu. Also straffte sie endgültig die Schultern, um sich dem Referat zu widmen und noch dazu den Geist vor ihrem heißgeliebten Freund zu verschließen.
Zu spät! Das war Anna bereits klar, noch ehe sie Viktors Samtstimme im Kopf vernahm.
»Es heißt Physiologie nicht Pysiologie , Anna. Du verschreibst dich jedes Mal bei diesem Wort«, tadelte er sie.
Anna verdrehte lächelnd die Augen.
»Klar, dass du dich wieder einmischen musst, du Besserwisser. Das Rechtschreibprogramm findet das sowieso heraus und ich korrigiere es zum Schluss. Jetzt raus aus meinem Kopf, sofort, sonst sitze ich morgen noch hier!«
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