Sie beugte sich zu ihm und blickte ihn aus dunkelblauen Augen, die seinen so ähnelten, milde lächelnd an. »Außerdem verpasst du dein Date mit Anna, wenn du dich nicht bald in Bewegung setzt. Ich dachte, du willst sie heute mit dem Auto abholen. Höchste Zeit, dass du losfährst.«
»Nein, Anna hat gesagt, sie hätte keine Lust auf Autofahren. Hhm, ich glaube, ich fahre ihr zu schnell. Kann das sein?«
Bei dieser Frage lachte Viktoria hell auf. Zwei Grübchen zeigten sich auf ihren Wangen, so wie bei ihm, wenn er lachte. »Tja, mein Bruderherz, das könnte durchaus möglich sein. Ich nehme an, du hast diese Info direkt aus Annas Köpfchen, denn das hätte sie dir gegenüber bestimmt nie zugegeben.«
»Ja, kann schon sein. Ach egal, dann hole ich sie halt durchs Portal im Wald hierher. Wir können ja immer noch ein bisschen wegfahren.«
»Na also, dann lass uns runtergehen. Da haben wir ja noch genügend Zeit für eine Tasse Kaffee.«
»Wo ist Ketu eigentlich? Hat er Wochenenddienst?«, erkundigte sich Viktor, als sie die Treppe hinuntergingen.
»Nein, er hat frei.« Sie räusperte sich. »Aber er kommt erst später, weil er sich vorher mit Sistra trifft. Sie wollen noch bei ihren Eltern vorbeischauen.«
Viktoria hielt die Lider gesenkt, so, als wollte sie etwas verbergen. Doch bei ihrem Bruder hatte sie mittlerweile so gut wie keine Chance mehr, ein Geheimnis zu wahren. Selbst wenn er nicht ihre Gedanken erforschte, reichte ein Blick in ihr Gesicht. Dieses schmale Gesicht, das seinem so ähnlich sah, stellte er nach einem prüfenden Blick wieder einmal fest:
Seine Zwillingsschwester glich ihm sehr, mit den feinen Zügen, den großen dunkelblauen Augen und dem braunen Haar. Nur Viktors Locken wurden zusätzlich von feinen mahagonifarbenen Strähnen durchzogen.
Viktoria strahlte allerdings eine charmante Weiblichkeit aus, die auch nicht durch den kurzen frechen Haarschnitt, den sie erst seit ein paar Monaten trug, gemindert wurde. Sie war groß und schlank, eine typisch elfische Eigenschaft, und gleichzeitig mit ansprechenden, femininen Kurven gesegnet.
Da Viktor seine Schwester über alle Maßen liebte, konnte er es nicht ertragen, sie traurig zu sehen. Er zog seine geraden Brauen zusammen, wohlwissend, dass sich dadurch eine kleine steile Falte auf seiner Stirn bildete.
»Hat er dich immer noch nicht zu seinen Eltern eingeladen?«
Als Viktoria dies stumm bestätigte, schüttelte er erbost den Kopf. »Was für ein Hornochse! Seine Eltern werden doch längst wissen, dass er mit der Prinzessin zusammen ist. Manchmal verstehe ich ihn nicht. – Ach, komm schon, lass dich dadurch nicht entmutigen. Er liebt dich, das weißt du doch. Den Rest kriegt er auch noch hin. Und wenn sein König ihm persönlich in den Arsch treten muss, um ihm zu verdeutlichen, dass er als sogenannter einfacher Wachmann die Königstochter lieben darf.«
Mit einem Schmunzeln sprach er weiter: »Und wenn Vitus das nicht bald tut, dann eben ich. Jens hilft mir sicher gerne dabei.«
Nun musste sie lachen. »Annas Bruder ist ziemlich gut darin, anderen in den Arsch zu treten. Es dürfte lustig sein, ihm dabei zuzusehen.«
»Sag ich doch.«
Er nahm seine Schwester liebevoll in den Arm und ging dann mit ihr Hand in Hand in die Küche.
***
»Anna, kommst du? Viktor ist da!«, rief Theresa.
»Ja, Mama, bin gleich da!«
Schnell warf sie einen letzten prüfenden Blick in den Spiegel.
Das goldblonde Haar fiel ihr glatt und glänzend über die Schulter und die hellblauen Augen leuchteten regelrecht hinter der schlichten Brille. Ihre Haut schimmerte hell und makellos.
Na ja, wenn die Brille nicht wäre, ginge es ja eigentlich, meinte sie, obwohl sie sich etwas zu dick für ihre geringe Größe von einen Meter dreiundfünfzig fand und deshalb leider vergeblich versuchte, drei von den einundfünfzig Kilos loszuwerden.
Dann waren da noch ihre Zähne, die mochte sie auch nicht. Anna musste unwillkürlich kichern, als ihr wieder einfiel, wie Viktor deswegen letztens Zahnarzt mit ihr gespielt hatte, nur um von ihr zu erfahren, welche Zähne denn angeblich schief stehen würden. Sie hatte sie ihm gezeigt. Doch er hatte nur gelacht, sie für kerzengerade und blendendweiß befunden und zudem ihren Mund, nach einem langen, dahinschmelzenden Kuss, bezaubernd genannt.
Die Erinnerung daran und an das, was darauf gefolgt war, ließ ihr Herz wild klopfen und den Atem stocken.
»Nur die Ruhe, Anna!«
Sie schnaufte einmal kräftig durch, verließ ihr Zimmer und strahlte Viktor an, musste allerdings erkennen, dass er bereits mitbekommen hatte, was ihr vorm Spiegel durch den Kopf gegangen war. Amüsiert hob er eine Braue und lächelte schief. Annas Herz erlitt bei diesem Anblick nach wie vor Aussetzer.
»Tief durchatmen!«
»Hallo, Anna, du siehst heute aber wieder zum Anbeißen aus.« Theresa noch einmal freundlich zunickend ging Viktor zu seiner Freundin, um sie zu umarmen und ihr einen kurzen süßen Kuss zu geben. Dabei strich er mit seinem Daumen ganz zart über ihre Wange.
»Nochmal: Tief durchatmen!«
»Ich bringe euch Anna übermorgen wohlbehalten zurück, versprochen«, versicherte er Theresa.
»Das weiß ich, Viktor. Wie wäre es, wenn ihr am Sonntag schon zum Mittagessen kommen würdet? Dann hätten wir dieses Wochenende auch ein wenig von euch, ehe Johannes und ich nächsten Freitag auf die Insel fahren.«
»Das klingt toll, nicht wahr, Anna?«
»Ja klar. Hab ich dir doch gesagt, Mama, dass Viktor das gut finden wird.«
Sie umarmte ihre Mutter und küsste sie auf den Mund. »Also, Tschö. Gib Papa was von dem Kuss ab und grüß Lena, Jens und Silvi. Ich hab dich lieb.«
»Ich hab dich auch lieb. Tschö, Engelchen.«
Auch Viktor nahm Theresa zum Abschied in den Arm und küsste sie auf beide Wangen. Danach sah er sie noch einmal an. »Schön, dass du wieder gesund bist, Theresa. Man sieht richtig, wie gut es dir mittlerweile geht. Das freut mich. Auf Wiedersehen oder auch Tschö, wie ihr hier so gerne sagt.«
»Danke, Viktor, das ist sehr lieb von dir. Tschö.«
Sie verließen die Wohnung der Nells, die zu einem Wohnhaus in einer kleinen Stadt bei Düsseldorf gehörte und nahe am Wald lag. Dem Wald, wo Viktor seine Anna damals im Juli auf der Lichtung angesprochen und der sich seitdem stark verändert hatte.
Jetzt, im Oktober, hatte der Herbst deutlich seine Fühler ausgestreckt. Nun herrschten hier leuchtende Farben vor, in rot-orangenen, rostbraunen, ockergoldenen Schattierungen und Nuancen. Als hätte der Herbst ein loderndes Feuer entfacht. Dies Farbspektakel stand dem sommerlichen Lichterspiel in Grün, Gold und Silber in nichts nach.
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