Der Gedanke an die Schule versetzte Anna allerdings wie üblich einen Stich. Eigentlich ging sie gern dorthin. Es würde ihr nur noch viel besser gefallen, wenn es dort nicht so furchtbar viele Sprösslinge steinreicher Leute gäbe, die mit ihren sündhaft teuren Klamotten hochnäsig durch die Gänge stolzierten und sie mit anmaßenden Gesten bedachten. Als gäbe es nichts Wichtigeres im Leben! Das verleidete ihr oft den Spaß.
»Gott, wie ich diese oberflächlichen Angebertypen und Tussen hasse!«
… Prompt tauchte das Bild von Janine Tronso vor ihrem geistigen Auge auf – wie herablassend die Anna in der letzten Volleyballstunde behandelt hatte:
»Los, gib mir den Ball rüber, Schätzchen! Ich muss Aufschläge üben!«
Anna gab ihr den Ball. Und wie! So könnte man es jedenfalls nennen. Sie pfefferte den Ball nämlich recht hart an den Kopf dieser blöden Kuh und rannte danach einfach hinaus. Wahrscheinlich hatte Janine nicht einmal mitbekommen, dass Anna diejenige gewesen war, die ihr den Ball an den Kopf geschmettert hatte. Denn, nachdem der besagte Ball einen ordentlichen Treffer bei Janine gelandet hatte, war die zwar mit jaulendem Gezeter hintenübergekippt, hatte unterdessen allerdings nicht einmal in Annas Richtung geschaut. Augenscheinlich hatte diese dämliche Pute erwartet, dass man ihr den verfluchten Volleyball ehrfurchtsvoll in die ausgesteckten, »begnadeten« Hände legte, während sie sich auf den bescheuerten Abschlag konzentrierte. …
»Grrr! Was für eine blöde Oberkuh!«
Verärgert über sich selbst, weil sie sich immer wieder über dieses unausstehliche Mädchen aufregte, schüttelte Anna abermals den Kopf und tröstete sich damit, dass nur noch fünf Schultage bis zu den Herbstferien vor ihr lagen.
Und da Annas Vater ihre Mutter dazu hatte überreden können, zu zweit eine Woche lang Urlaub auf der Nordseeinsel zu machen, würde Anna exakt diese Zeit ganz allein mit Viktor verbringen.
Das machte sie gleich doppelt glücklich, denn der Mutter ging es endlich wieder gut. Seit Theresas Klinikaufenthalt war zwar schon einige Zeit vergangen, aber Anna würde niemals vergessen, wie sehr sie sich währenddessen gesorgt hatte.
In Vorfreude auf die kommende Herbstferienwoche mit Viktor malte sie sich aus, was sie alles unternehmen könnten. Ihre Überlegungen reichten von Sightseeing in der Elfenwelt über Kinobesuch bis hin zum Spaziergang am Rhein in Düsseldorf.
Es wurde höchste Zeit, mal etwas anderes zu sehen, überlegte sie. Selbst nach dem Sieg über Kana und Kaoul hatte es für Anna fast nur die Schule, ihr Zuhause oder das Reetdachhaus gegeben. Auch war sie der viel zu schnellen Autofahrten mit Viktor überdrüssig geworden. Vielleicht sollte sie sich endlich dazu durchringen, den Führerschein zu machen. Wenn da nur nicht immer ihre Nervosität wäre.
Erschrocken horchte Anna in sich hinein.
»Puh, kein Viktor, dem Himmel sei Dank! Das hätte wieder eine Strafpredigt gegeben, von wegen Selbstbewusstsein und so.«
Anna seufzte. Wenn sie sich nicht bald zusammenriss, stünde sie morgen mit leeren Händen vor »Mister Ich–bin–ein–arroganter–Geo–Lehrer–und–Blondchen–Hasser Bionda«. Anna verdrehte die Augen. Sie fand ihren Erdkundelehrer namens Bionda einfach nur ätzend und war froh, dass ihr, neben dem heißgeliebten Deutsch-Leistungskurs, wenigstens der Biologieunterricht einigermaßen Spaß machte.
Der Biolehrer, Herr Zitt, war zwar ziemlich streng, aber nicht so schrecklich alt und knöchern wie viele andere, insbesondere Herr Bionda. Allerdings besaß er eine untrügliche Abneigung gegen Unpünktlichkeit aller Art, was ihr schon ein paarmal »Aussperrung« vom Unterricht eingebracht hatte.
Die Erinnerung, wie sie am Montagmorgen zur ersten Stunde vor der verschlossenen Klassentür gestanden hatte, nur ein ganz paar Minuten zu spät, ließ sie schmunzeln.
… Sie hatte um Einlass klopfen und bitten müssen, bevor ihr Herr Zitt mit belustigter Miene die Tür aufschloss, sie einließ und daraufhin gnadenlos zu den Hausarbeiten befragte. Leider erwischte er sie bei solchen Aktionen häufig auf dem falschen Fuß. Gerade an diesem Montag war es besonders schlimm gewesen und ihre ach so lieben Mitschüler, speziell Janine, hatten sich mal wieder ausgiebig auf Annas Kosten amüsiert. …
So etwas sollte auf keinen Fall noch einmal passieren.
Das restliche Bio-Referat und die Auswertung der Statistik über die Städtebevölkerung im Ruhrgebiet genossen nun erste Priorität.
Außerdem stellte Anna sich Wecker und Handy, um sicherzustellen, dass sie am nächsten Morgen pünktlich zur ersten Stunde in Bio erscheinen würde.
***
Nach dem Frühstück suchte Viktor auf dem Sofa bei den Killers Entspannung, aber selbst seine derzeitige Lieblingsmusik konnte ihm die schlechte Laune nicht vertreiben. Ständig musste er an den vergangenen Abend denken, an welchem er recht viele Gedankenfetzen aufgeschnappt hatte, die Annas Schutzmaßnahmen wohl entfleucht waren.
Seine Laune verdüsterte sich noch mehr, weil er sich fragte, wieso sie ihm nichts von ihrem Ärger mit den Lehrern und Mitschülern erzählt hatte. Er konnte es nicht leiden, wenn sie sich ihm gegenüber verschloss. Erst recht konnte er es nicht leiden, wenn Anna mal wieder an sich zweifelte oder sich gar minderwertig fühlte. Das war ein Zustand, den es unbedingt zu ändern galt, überlegte er, und suchte fieberhaft nach einer Lösung.
Mit einem Mal hellte sich seine Stimmung wieder auf. »Na warte, Fräulein Nell«, sprach er vor sich hin. »Wenn du mir nicht sagst, was da los ist, dann schaue ich mir die ganze Sache einfach mal aus der Nähe an.«
Er sprang von der Couch und stieg in die ihm so verhassten Converses . Schuhe waren eindeutig ein Manko in der Menschenwelt. Doch weil die nun einmal dazugehörten, ignorierte er das beengende Gefühl an den Füßen, schnappte sich Autoschlüssel und Lederjacke, bevor er zur Treppe hoch rief: »Ich fahre noch schnell durch die Waschanlage, Viktoria! Bin gleich wieder da!«
Er konnte noch einen Blick auf das verwunderte Gesicht seiner Schwester erhaschen, als diese mit einem vor Farbe triefenden Pinsel in der Hand zur Treppe hinunterschaute. Fahrig strich sie sich mit dem Handrücken über die Stirn, ohne zu bemerken, wie dort ein dicker grüner Klecks zurückblieb.
»Waschanlage? Warum?«
Achselzuckend kehrte sie in ihr Zimmer zurück, während Viktor die Haustür zuzog.
Читать дальше