Wir sitzen bei mir zu Hause auf der Couch, Gott sei Dank, ist Lena nicht da. Ich habe uns einen Tee gemacht und Nathaniel sitzt zusammengesunken da, den dampfenden Becher mit beiden Händen umklammert haltend. Er hat kaum ein Wort gesprochen, seither und starrt nur vor sich hin. Ich sitze neben ihm und muss zugeben, dass ich mich völlig überfordert fühle. Er nimmt immer mal wieder einen Schluck, dann, als seine Tasse leer ist, lehnt er sich plötzlich gegen mich. „Nimmst du mich bitte, in deine Arme?“, flüstert er und ich ziehe ihn wie selbstverständlich an mich. Er wirkt plötzlich so klein, so unschuldig, so verletzlich und hilflos, dass ich gar nicht anders kann, als ihn einfach nur zu streicheln. Ich spüre seinen Mund an meiner Halsbeuge, seinen aufgeregten Atem, dann knabbert er auf einmal an meiner Haut, küsst mich, zieht die empfindliche Haut ein, leckt sogar daran. Scheiße! Was macht er nur? Ich stöhne unwillkürlich, beuge mich zu ihm und unsere Lippen finden sich. Er küsst mich, wie ein Verdurstender, verschlingt mich beinahe, beißt mich sogar leicht und presst sich derart an mich, dass ich kaum noch Luft bekomme. Ganz plötzlich hält er inne, zuckt zurück und schlägt beide Hände vor sein schönes Gesicht.
„Nathaniel“, raune ich dieses Mal hilflos und er schluchzt auf. „Ich sollte gehen“, sagt er schniefend, doch er steht nicht auf. Ich ergreife seine Hände und küsse ihn sanft auf die Wange. „Möchtest du denn gehen?“, frage ich ihn leise und er schüttelt seinen Kopf. „Ich, ich habe mir so etwas, immer gewünscht“, stottert er, „jemanden, der mich einfach nur festhält, der mich beschützt und führt, bei dem ich mich fallen lassen kann und keine Verantwortung mehr übernehmen muss.“ Häh? Ach Scheiße, was meint er denn nun wieder? Egal! Ich bin bereit dazu! Ich werde ihn festhalten und beschützen, von nun an! Das nehme ich mir in diesem Moment ganz fest vor!
Ich höre, wie er leise meinen Namen sagt, doch ich möchte einfach nicht wachwerden. „Nathaniel!“, sagt er energischer und ich blinzle zu ihm hoch. Wie immer, hat er mir eine Pause gegönnt, ein, zwei Stunden Schlaf, damit ich mich erholen kann, nach seiner `Behandlung´. Er rüttelt an meiner Schulter und sieht mich streng an. „Na los, komm schon, setz dich auf! Hier“, sagt er und reicht mir die große Suppentasse. Er macht mir immer eine frische Hühnerbrühe, während ich schlafe, ich rapple mich hoch und nehme die Tasse dankend entgegen. Die Brühe schmeckt wieder einmal himmlisch gut, ist gerade noch heiß genug, damit ich sie in kleinen Schlucken trinken kann. Ich nehme mir Zeit, wohl zu viel, denn er wirkt ziemlich ungeduldig. „Nun mach schon! Du kannst noch duschen und dann verschwinde!“, raunt er. „Kann ich nicht noch bleiben?“, frage ich leise, ohne ihn anzusehen. „Bitte?“ Eduard schnauft tief durch. „Nathaniel, was soll das? Du kennst die Regeln! Also mach!“ Ja, ich kenne die Regeln. Er hat sie bestimmt und ich war damit einverstanden. Es ist immer so, schließlich hat er mich gekauft, für diese Nacht. Ich schließe die Augen und spüre, wie mein ganzer Körper schmerzt. Besonders meine Arme und vor allem, meine Achseln. Meine Handgelenke brennen und zeigen deutliche Spuren von den Fesseln. Ich streiche über meine nackte Haut, beinahe fröstelnd, obwohl es angenehm warm ist, im Raum. Er sorgt immer dafür, dass es mir gut geht, danach. „Brauchst du noch etwas?“, fragt er und ich schüttle den Kopf. Meine Brustwarzen fühlen sich geschwollen an und brennen wie Feuer. Er war heute extrem hart zu mir und ich hatte es verdient, schließlich habe ich ihn warten lassen, in der Galerie… Aber da war dieser unglaublich süße, nette Typ… „Mein Geld?“, frage ich. „Dort!“, antwortet Eduard und deutet fahrig zur Kommode hin. Klar, es liegt immer dort, in einem Kuvert. Ich stehe auf, stelle die Tasse auf das Schränkchen, nehme den Briefumschlag und werfe einen Blick hinein. Er hat einen Hunderter extra rein, das wären dann sechshundert nur für mich, plus meinen Anteil, den ich von der Agentur bekomme. Eduard ist einer meiner besten Kunden, immer sehr großzügig, wenn es um das Bezahlen geht und er bucht mich oft. Mindestens einmal im Monat bestellt er mich hierher, zu einer Session, wie er es bezeichnet. „Danke“, sage ich, während ich mich wieder zu ihm umdrehe. Eduard nickt nur kurz und streckt mir seine Hand entgegen. „Hast du dir redlich verdient, heute“, sagt er und ich weiß, was er nun von mir erwartet. Mit gesenktem Haupt knie ich nieder und küsse ihn flüchtig auf den Handrücken. „Du bist entlassen“, erwidert er zufrieden und ich nicke leicht. „Danke, Master“, hauche ich demütig und er zieht seine Hand zurück. Damit darf ich aufstehen und mich wieder ankleiden. Duschen werde ich zu Hause, ich bin einfach zu erledigt im Moment. „Ich rufe dir ein Taxi“, sagt er beinahe sanft. Natürlich tut er das, macht er ja immer. Es ist vier Uhr morgens, als ich endlich zu Hause bin. Ich werfe einen Blick in Alex` Zimmer, er schläft und ich lehne die Türe leise wieder an. Er mag es nicht, wenn ich sie ganz schließe, er fühlt sich sonst eingesperrt und so lasse ich sie einen kleinen Spalt offenstehen. Ich schlurfe ins Bad, schließe die Tür und drehe den Wasserhahn auf. Während die Wanne vollläuft, putze ich mir gründlich die Zähne, dann ziehe ich mich aus und gleite in das heiße Wasser. Autsch! Aaah, meine Nippel brennen wie Feuer, als sie mit der Hitze in Berührung kommen. Ich mag diese verdammten Klemmen nicht und Eduard setzt sie nur ein, wenn er mich bestrafen will. Ja, und das wollte er heute auch und wie! Selbst schuld! Hättest ihn nicht warten lassen sollen, du weißt, wie sehr er das hasst und dann habe ich auch noch mit diesem anderen Mann gesprochen, in seinem Beisein! Ein absolutes No-Go! Der Typ war aber auch der Hammer! Groß und breitschuldrig und super gutaussehend! So müsste er aussehen, mein Traummann! Träume ich vor mich hin und spüre, wie sich mein Körper langsam entspannt. Die Wärme des Wassers tut mir gut und ich umarme mich selbst, wohlig seufzend. Morgen habe ich Geburtstag, eigentlich ja schon heute, denn es ist ja schon weit nach Mitternacht und damit schon Sonntag. Mein dreiundzwanzigster, Wahnsinn! Ich kann es kaum glauben, wie alt ich schon bin! Und wenn ich ehrlich bin, fühle ich mich im Moment echt alt, mindestens wie Hundert. Wieder entkommt mir ein Seufzer. Manchmal bin ich es so leid, habe die Schnauze so voll, von diesem beschissenen Leben und sehne mich einfach nur nach jemandem, der mich festhält. Ein starker Mann, der sich um alles kümmert, mir alles abnimmt und die Verantwortung für mich übernimmt, so wie ich die letzten Jahre die Verantwortung über meinen kleinen Bruder Alex übernommen habe, seit… Ja, seit ich unsere Eltern umgebracht habe. Es war ein Unfall, haben alle immer wieder gesagt, ja sicher, aber ich habe ihn verschuldet. Es ist seltsam, aber ich kann mich noch ganz genau daran erinnern, an jede verdammte, kleine Einzelheit, als wäre es gestern gewesen und nicht vor vierzehn Jahren. Ich war gerademal neun Jahre alt und Alex vier. Wir saßen auf der Rückbank und ich habe ihn mal wieder geärgert, weil mir langweilig war. Irgendwann habe ich ihm seinen Plüschhasen weggenommen und Alex hat angefangen zu weinen. Mama hat sich umgedreht und mit mir geschimpft, wie immer halt, immer bin ich der Böse. Dann habe ich das Fenster heruntergedreht und den blöden Hasen hinausgehalten, ich wollte ihn nicht fallen lassen, aber der Fahrtwind war so stark und hat ihn mir einfach aus meiner kleinen Hand gerissen. Alex hat geschrien, wie verrückt und Mama hat nach mir geschlagen, dann hat Papa sich umgedreht und mich angeschrien, warum ich immer Ärger machen würde und dann, hat es fürchterlich gekracht. Ein LKW vor uns hat plötzlich gebremst und unser Auto ist einfach dagegen gefahren und hat sich darunter geschoben. Dabei wurde das Dach unseres Wagens komplett abgerissen, wie bei einer Konservenbüchse. Mama und Papa waren sofort tot, ich hatte nur ein paar Kratzer abbekommen, nichts Schlimmes und Alex blieb wie durch ein Wunder, komplett unverletzt. Äußerlich jedenfalls, denn seit dem Unfall ist er anders. In sich gekehrt und irgendwie emotionslos. Er findet keinen Draht zu anderen, nur an mir, hängt er wie eine Klette. Wir kamen danach ins Heim, denn für eine Pflegefamilie schienen wir ungeeignet, zu problematisch, außerdem sprach ich kaum ein Wort Deutsch und Alex sprach überhaupt nicht mehr. Über ein Jahr lang, kein einziges Wort. Später wurde das Asperger-Syndrom bei ihm diagnostiziert und sie sagten mir, dass das nichts mit dem Unfall zu tun haben würde, sondern angeboren sei und sich die ersten Symptome meistens erst um das vierte Lebensjahr herum, zeigen würden. Ich glaubte ihnen nicht, wieso auch? Alex war vor dem Unfall völlig normal, ein lieber, netter kleiner Junge. Vielleicht war er ein wenig ruhiger und stiller, als ich und Mama sagte immer, dass er so lieb und unkompliziert sei. Er konnte sich stundenlang mit sich selbst beschäftigen und spielen, im Gegensatz zu mir. Ich wollte immer Action und dass er mit mir spielt, doch dann konnte ich nichts mit ihm anfangen und fand ihn einfach nur langweilig und doof. Ja, und manchmal, hasste ich ihn regelrecht, weil er Mamis Liebling war und jeder immer total begeistert von ihm, dem braven, lieben kleinen Alex, war. Und heute, hasse ich mich, dafür, dass ich unsere Leben zerstört habe. Mit achtzehn habe ich das Heim verlassen und ihm versprochen, dass ich ihn so schnell wie möglich zu mir holen würde. Ich suchte mir sofort einen Job, fand aber auf die Schnelle nur eine Anstellung als Barkeeper in einem Schwulenclub. Da hat mich dann dieser Mann angesprochen und mir Geld angeboten, wenn ich mit ihm… Natürlich habe ich abgelehnt, zunächst. Aber dann legte er zwei Hunderter vor mich hin und ich folgte ihm in den Darkroom. Das war mein erstes Mal. Er war es auch, der mir den Job bei dieser Escort Service Firma vermittelte. Ich wäre wie dafür geschaffen, sagte er mir und ja, er hatte recht, denn seitdem arbeite ich hauptberuflich als Callboy. Ich war sofort sehr begehrt bei den Kunden und gefragt, weil es sich bald herumsprach, dass ich für Geld fast alles tun würde. Mir war das alles gleichgültig, ich ließ alles über mich ergehen, Hauptsache die Kohle stimmte und bald konnte ich mir eine wirklich noble Wohnung leisten. Bereits ein Jahr später, holte ich Alex zu mir und seit dem, kümmere ich mich um ihn. Dieser Typ, geht mir einfach nicht aus dem Kopf. Soll ich ihn wirklich anrufen? Und dann? Sobald er erfährt, was ich bin, ist er eh wieder weg, so wie alle anderen auch. Denn immer, wenn sie rausfinden, dass ich nichts weiter als eine Hure bin, ein besserer Stricher eben, sind sie fort und ich wieder allein. Und das tut weh, sehr weh, mehr als das, was mir manche meiner Kunden körperlich an Schmerzen zufügen. Körperlicher Schmerz macht mir nichts aus, manchmal genieße ich es sogar. Ich weiß, das klingt krank, aber in diesen Momenten fühle ich mich am Leben, gebe für diese Zeit die Kontrolle ab und gebe mich ganz in deren Hände. Und manchmal wünsche ich mir, dass einer von ihnen sagen würde, bleib Nathaniel. Doch das tun sie nie, sie bezahlen mich und dann schicken sie mich fort, bis zum nächsten Mal. Ich habe schon oft darüber nachgedacht, was mit mir nicht stimmt, warum ich mich so zu älteren, mir überlegenen Männern hingezogen fühle und ich es genieße von ihnen dominiert zu werden. Ich sehne mich regelrecht danach, nach einem Mann, zu dem ich aufsehen kann, der mir jeden Tag seine Stärke beweist und mich auf Händen durchs Leben trägt. Für so jemanden, würde ich alles tun und aufgeben… Nein, natürlich nicht, es würde gar nicht gehen, denn da ist ja noch Alex und der braucht mich mehr, als ich irgendjemanden anderen. Also hör auf zu träumen! Nachdem ich mich abgetrocknet habe, stehe ich noch kurz vor dem Spiegel und sehe mich an. Kein einziges Härchen ist auf meinem perfekten Körper zu sehen, genauso, wie es die meisten meiner Kunden von mir erwarten. Viele sagen, dass ich wunderschön aussehe und ein richtiger Adonis wäre, doch ich kann nur Abscheu empfinden, bei meinem Anblick. Ich wende mich ab, mache das Licht aus und gehe schlafen, wenigstens ein paar Stunden noch, bis mich mein kleiner Bruder weckt, damit ich ihm Frühstück mache… Herzlichen Glückwunsch, zum Geburtstag, Nathaniel!
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