1 ...6 7 8 10 11 12 ...21 Nun gab es einen Menschen, den sie bisher nicht erwähnt hatten und der noch kürzlich der Mann an Nadines Seite und deren große Liebe gewesen war.
Ihr Vater zögerte kurz, ehe er die Abrechnung der besonderen Art begann: »Tom, ein Mann, über den man wohl kein nettes Wort mehr verlieren kann. Dieser alte Charmeur und Schwerenöter. Hat den liebenswerten Verlobten gespielt und bei mir brav um deine Hand angehalten und mir versichert, dass er dich nur glücklich machen wolle. Wenn ich daran denke, dass all sein Getue nur Fassade war, wird mir schon schlecht, und das bei diesem leckeren Essen.« Er deutete mit seinem Zeigefinger auf den Spaghettiberg, der aus dem auf dem Teakholztisch thronenden Kochtopf ragte. »Ich kann dazu nur sagen: Wenn der Vorhang fällt …« Man merkte, dass er ärgerlich wurde und seine Augenbrauen näher zusammenrückten. »Kaum zu glauben, dass die Vermögensabteilung in dieser Bank sein Ressort ist. Denn er hat zweifelsohne selbst das größte Vermögen verspielt, das er je hatte.« Er schaute seine Tochter eindringlich an.
Nadine lächelte geschmeichelt und war etwas verlegen. »Eine Sache hat nur so viel Wert, wie man ihr beimisst. Er muss schon lange aufgehört haben, mich zu lieben. Ich glaube, dass er mich wie ein altes Möbelstück betrachtet hat, an das man sich gewöhnt hat.«
»Engelchen, du willst dich doch nicht etwa mit altem Mobiliar vergleichen?«, fragte ihr Vater etwas erschrocken.
»Ich meine doch nur, dass vielleicht aus Liebe einfach Gewohnheit geworden ist. Wahres Gift für eine Beziehung …«
»Nadine, ich denke, dass Tom mit Menschen und ihren Gefühlen nur Schach spielt. Veronika ist auf seinem Brett wahrscheinlich auch nur eine Figur, der er sich bald entledigen wird. Unser Möchtegern-Don-Juan bereitet sicherlich schon seinen nächsten Zug vor.«
Veronika hatte die letzte Nacht fast nur im Wachzustand zugebracht. Jedes Mal, wenn sie in einen leichten Schlaf fiel, war sie von dem gleichen Traum heimgesucht worden und sah darin dieses eine Bild.
Tom und sich auf dieser Couch und Nadine im Wohnzimmer, die sie beide in flagranti ertappt hatte. Auch hörte sie in diesem Traum immer Nadines schrillen Schrei. Sie schreckte stets hoch und wachte schweißgebadet auf. Den Preis, den sie für ihre Liebe zu Tom gezahlt hatte, war zu hoch gewesen. Viel zu hoch. Seitdem sich die zwei im Streit in Nadines Wohnung getrennt hatten, hatte Veronika nichts mehr von ihm gehört.
Nachdem Nadine das Apartment fluchtartig verlassen hatte, machten sich beide einander lautstark Vorwürfe. Ein Wort ergab das andere.
Veronika meinte zu Tom vollkommen aufgewühlt: »Wir sind furchtbare Menschen. Wir haben Nadines Couch entweiht.«
»Red doch keinen Unsinn. Die Couch war schließlich kein Heiligtum«, entgegnete Tom gereizt.
»Für Nadine vielleicht schon. Auf jeden Fall haben wir sie wochenlang angelogen …«
»Wir haben Nadine nicht angelogen, sondern ihr nur etwas verschwiegen. Das ist ein feiner Unterschied«, erwiderte Tom bestimmt.
Veronika fragte immer wieder unter Tränen: »Was machen wir jetzt nur? Was machen wir jetzt nur?«
Tom antwortete kühl: »Ich für meinen Teil packe.« Er ging in die Besenkammer des Apartments und förderte einen großen Reisekoffer zutage. Darin verschwanden in Windeseile seine Kleidungsstücke aus Nadines Kleiderschrank im Flur. Er klaubte auch noch schnell seine restlichen Besitztümer zusammen.
Veronika war ihm nachgelaufen und sagte fassungslos: »Dazu fällt dir nichts anderes ein?«
Tom erwiderte: »Falls du es nicht weißt: Reisende soll man nicht aufhalten.« Er legte seinen Schlüssel von Nadines Apartment auf den gläsernen Couchtisch. Außerdem fügte er hinzu, wobei Veronika in seinen Augen eine nie da gewesene eisige Kälte wahrnahm: »Ein gut gemeinter Tipp von mir: Verlass auch du das Apartment – es ist schließlich nicht deins.«
Veronika war wie vor den Kopf gestoßen und schnappte merklich nach Luft. Sie wollte einen Schrei fahren lassen, der in seiner Lautstärke noch den von Nadine übertraf, doch sie war wie gelähmt und spürte, wie man ihr den Boden unter ihren Füßen wegzog. Sie sackte in sich zusammen und nahm noch aus den Augenwinkeln wahr, wie sich der Mann, den sie so sehr geliebt hatte, ihr Ritter, auf sein Ross schwang, in die anbrechende Dunkelheit verschwand und sie allein zurückließ. Er wandte seinen Kopf kein einziges Mal mehr zurück.
Nadine und ihr Vater beendeten ihr Abendessen, nachdem beide ein Völlegefühl verspürt und sie gemerkt hatten, dass fast der ganze Topf Spaghetti in ihren Mägen gelandet war. Auch den Spätburgunder hatten sie nicht gerade verschmäht. Nadine half ihrem Vater beim Abräumen des Tischs und ging dann recht schläfrig in das Bett ihres alten Kinderzimmers. Sie empfand gleich eine starke Vertrautheit, als sie den weitläufigen Raum mit seinen hell getünchten Wänden betrat, und hatte das Gefühl, von einem guten alten Freund begrüßt zu werden. Als sie sich in ihr Bett legte, glaubte sie, auf einer Wolke zu liegen, und hüllte sich in ihre weiche Daunendecke. Sie fiel im Gegensatz zu gestern in einen tiefen und festen Schlaf.
Der gestrige unterhaltsame Abend wirkte noch nach. Am nächsten Morgen stieg eine gut gelaunte Nadine aus ihrem Bett, lief die breite Holztreppe hinunter und betrat die große Vorhalle der Villa. Sie lief über die terrakottageflieste Diele in das weitläufige Kaminzimmer, in dem sich ein großer Ofen befand, dessen in Blautönen gehaltene Kacheln kunstvoll bemalt waren. Auf einigen waren kleine Apfelbäume zu entdecken und auf anderen jeweils ein Mann mit Frau in friesischer Tracht. Auf dem Sims des Kachelofens wollte auch ein großer Porzellanteller bestaunt werden, auf dem auf Friesisch stand: »Üüs Sölring Lön, dü best üs helig.« Dies übersetzte man mit: »Unser Sylter Land, du bist uns heilig.« Der Ofen samt Teller wirkte etwas verloren in dem toskanisch eingerichteten Raum. Nadine hatte sofort einen angenehmen Geruch in der Nase, als sie ihn betrat: den von frisch gebrühtem Kaffee und knusprigen Brötchen. Der Tisch, an dem gestern noch genüsslich Spaghetti mit Pesto gegessen worden war, hatte sich in eine ausladende Frühstückstafel verwandelt. Nadine war sich für einen Moment nicht sicher, ob ihr Vater Besuch zum Frühstück erwartete. Aber auf dem Teakholztisch standen schließlich nur zwei Teller, Gläser und Kaffeetassen. Ansonsten könnte man glauben, dass sich ihr Elternhaus über Nacht in eine Pension umgewandelt hatte und nun auf seine ersten Morgengäste wartete.
Ihr Vater kam fröhlich pfeifend mit einer Kaffeekanne aus der Küche und begrüßte seine Tochter. »Guten Morgen, Schatz, ich hab mir erlaubt, den Tisch zu decken.«
Nadine, immer noch ein wenig überrascht, fragte: »Du erwartest niemanden, nicht wahr?« Ihr fiel jetzt auch auf, dass sich auf dem Tisch das beste Service des Hauses befand.
Ihr Vater schien sich kurz die Antwort zu überlegen und musterte die Tafel. »Wie konnte mir das nur passieren? Das habe ich ja völlig vergessen.« Er lief zu der großen Vitrine mit dem Porzellangeschirr und holte noch ein Gedeck.
»Moment mal«, sagte Nadine, noch verwundeter als zuvor, »wer kommt zu Besuch? Der Bundespräsident? Ich bin übrigens noch im Pyjama …«
Ihr Vater unterbrach sie. »Dir steht doch alles.« Er lief wieder schnell in die Küche und kam mit einer weiteren Tasse und einem Glas zurück. Nachdem er diese auf dem Tisch platziert hatte, senkte er leicht seine Stimme und meinte beiläufig: »Außerdem, Anja stört es bestimmt nicht.«
Nadine glaubte im ersten Moment, sich verhört zu haben, und kniff sich mit ihrer rechten Hand in den Arm, als hätte sie Zweifel, schon wirklich wach zu sein, und ihr Mund öffnete sich leicht vor Erstaunen.
»Deine Pferdewirtin kommt zum Frühstück«, sagte sie beinahe etwas abfällig, weil sie doch sehr verärgert war, dass schon am frühen Morgen Besuch kam und sie sich diesem sicherlich nicht im Schlafanzug präsentieren wollte. Außerdem erweckte die Tatsache, dass Anja am Frühstück teilnehmen sollte, bei ihr den Eindruck, als handelte es sich bereits um ein Familienmitglied.
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