Tom war gegangen und hatte seine Schlüssel von ihrem Apartment auf den gläsernen Couchtisch gelegt. Ohne ein geschriebenes Wort. Er würde nicht mehr zurückkommen und hatte vielleicht, als er über die Türschwelle schritt, seinen Lebensabschnitt mit Nadine und ihre Liebe einfach wie ein altes Kleidungsstück weggeworfen, das er nie mehr tragen wollte. Sie war sich sicher, dass er nicht mehr den Mut dazu aufbringen würde, das Gespräch mit ihr zu suchen. Er hatte in seinem Spiel mit Veronika und ihr hoch gepokert, sicher, immer das höhere Blatt zu ziehen. Dass es nun anders gekommen war, stellte eine persönliche Niederlage für ihn dar. Nadine schluckte.
Zwei Fragen geisterten ihr durch den Kopf. Wie lange hatte er sie schon hintergangen und ihr den liebenden Verlobten vorgegaukelt? Und die noch wichtigere war: Warum? Was hatte sie falsch gemacht? War sie sich seiner Liebe zu ihr die ganze Zeit zu sicher gewesen? Es stimmte. Sie hatte sie für so unerschütterlich wie einen alten Baum gehalten, der fest mit der Erde verwurzelt ist. Sie glaubte auch, dass sie gemeinsam den Problemen, die in einer Beziehung auftreten können, trotzen würden wie Seefahrer einem Sturm auf hoher See. Sie dachte, sie seien das perfekte Paar. Dass sie sich bitter getäuscht hatte, war ihr heute vor Augen geführt worden.
Sie kam sich so unglaublich dumm vor. Nadine hatte sich auf ihre Couch gesetzt, die keine unerhebliche Rolle in ihrem Waterloo der Liebe gespielt hatte. Da saß sie allein und trauerte ihrer Liebe nach, die nun der Vergangenheit angehörte. Stunden vergingen, und sie befand sich immer noch zusammengekauert auf ihrem Möbelstück, das sie wohl verkaufen würde. Sie wollte wenigstens einen Dorn aus ihrer Haut ziehen. Sich wieder in der Wohnung zu befinden, hatte dazu geführt, dass quälende Emotionen erneut wie am Strand die Flut in ihr aufstiegen, die sie noch nicht verarbeitet hatte.
Nadine ging ins Bett und fiel in einen unruhigen Schlaf.
Als sie am nächsten Morgen aufwachte, war sie noch nicht sofort ganz bei sich. Schlaftrunken fasste sie mit ihrer linken Hand auf die leere Bettseite und auf das Kissen, auf das Tom immer seinen Kopf gebettet hatte. Ihre Hand tastete ins Leere. Da wurde es Nadine mit einem Mal bewusst, dass sie sein Lächeln nicht mehr wiedersehen und ebenso wenig seine zarten Lippen spüren würde, mit denen er sie schon oft wach geküsst hatte. Da war wieder dieser stechende Schmerz. Sie richtete sich langsam auf und öffnete das Fenster ihres Schlafzimmers und hoffte inständig, dass die Welt heute anders aussehen würde. Eine frische Brise wehte ihr um die Nase, als sie die Vorhänge wegzog und sie beide Flügel ihres Fensters aufriss. Sie atmete tief ein und stellte fest, dass Sylt momentan noch von einer dicken Nebeldecke umhüllt war und zu schlafen schien. An manchen Fenstern hingen die Vorhänge wie schwere Augenlider und an vielen anderen verharrten Rollläden starr in ihrer Position.
Sie wollte warten, bis sich der Nebel lichtete und an der Uferpromenade und am Strand joggen gehen. Nadine zog sich an, wobei sie bewusst dezente Farben wählte und ihr langes Haar in einem Pferdeschwanz bändigte. Es musste irgendwie weitergehen. Sie war froh, dass sie heute erst spät ins Büro musste, um nur noch ein paar Zeichnungen anzufertigen. Sie wollte am liebsten freimachen und sich nicht an ihr Zeichenpult setzen, das sie oft mit Veronika teilte. Sie gab sicherlich nicht ihr allein Schuld am Ende ihrer Beziehung. Tom hatte auch seinen Beitrag dazu geleistet. Doch sie war von ihr angelogen und sehr enttäuscht worden. Aber wer hatte eigentlich wen verführt? Warum hatte Veronika keine Skrupel gehabt, ihre Liebe zu zerstören? Wie viel Kalkül und Berechnung hatten schon immer hinter Toms Lächeln gesteckt? Auf einige Fragen würde sie wohl nie eine Antwort bekommen. Es war so, als würde sie diese in den Kosmos hinausschicken.
Nadine wollte den Kopf freibekommen, und der Zentralstrand von Westerland bot die geeignete Kulisse zum Joggen und Entspannen. Ein Stück Alltag hinter sich lassen und — wenn auch nur für kurze Zeit — sich von Problemen lossagen. Das war das erklärte Ziel, dem sie sich mit jedem Schritt zu nähern glaubte.
Schon kurze Zeit später sah sie von der Uferpromenade auf das offene Meer, und ihr Blick verweilte für einen kurzen Moment bei den Wellenreitern, die die frühen Morgenstunden zum Üben nutzten, um ihre Kunststücke und ihr Können zu perfektionieren. Dann sah sie ein junges Paar, das allem Anschein nach ebenfalls zu den Frühaufstehern zählte. Vielleicht schätzten sie die Ruhe, die noch herrschte, bevor sich am Strand die ersten Touristen tummelten.
Die Insel konnte im Sommer immer mit zwei Meeren aufwarten. Einem, dessen Wellen vom Ozean an das Ufer schlugen, und einem, das aus Menschen bestand und vom Festland über den Hindenburgdamm flutartig auf die Insel angeschwemmt kam.
Nadine beobachtete das Paar näher. Die beiden wirkten sehr vertraut und lachten fröhlich. Sie warfen sich gegenseitig in die Wellen und tobten ausgelassen am Strand. Nadine holte tief Luft und schloss die Augen. Fast unvermeidlich dachte sie an Tom, mit dem sie so manchen romantischen Spaziergang über den feinen Sandstrand unternommen hatte. Verdammt! Wieder sah sie sein Lächeln vor Augen, das oft so verschmitzt und herzlich erschien. Als sie sich zum ersten Mal am Strand innig umarmt und er gesagt hatte, dass er sie nie mehr loslassen wolle und mit ihr den Hauptgewinn gezogen habe, mit seiner Hand durch ihr Haar gefahren war und mit der anderen über ihre Wange gestrichen hatte, hatte er das Funkeln in ihren Augen mit den Sternen am Nachthimmel verglichen. Dieser leuchtete zu diesem Zeitpunkt wolkenlos über Westerland. Nadine schrie nun laut innerlich: »Nein! Alles gelogen!«
Sie musste Tom durch eine Tür aus ihrer Gedankenwelt treten und verschwinden lassen. Eine Trennung für immer ohne Abschied oder ein nettes Wort. Er hatte es nicht anders gewollt und verdient.
Leicht gelöst und etwas positiver gestimmt, legte sie nun eine lange Strecke zurück. Der Sport hatte ihr gutgetan, und ein wohliges Gefühl verbreitete sich in ihrem Körper. Sie kehrte zur Uferpromenade zurück und ließ später auf der Arbeit alles ein wenig ruhiger angehen.
Lennart Petri hielt ihr gleich zu Beginn einen langen Vortrag über ein Passivhaus, das in Keitum entstehen sollte, und er erwartete, dass sie sich ganz und gar seiner Konstruktion widmete. Sein ernster Gesichtsausdruck unterstrich seine hohe Erwartungshaltung.
Nadine wusste somit, dass es galt, die Kräfte zu bündeln und auf diese Arbeit zu verwenden.
Lennart Petri ließ Sätze fallen wie: »Es wird Ihnen sicherlich keine Probleme machen, es auf Papier zu bringen.« Und: »Ihre Arbeit war wirklich in letzter Zeit außerordentlich.« Außerdem bezeichnete er sie noch als sein »bestes Pferd im Stall«. Sie war etwas überrascht darüber, dass nicht auch Veronikas Name fiel. Sie hatten schließlich fast immer im Team gearbeitet. Für den Moment war es ihr jedoch recht. Diese Zusammenarbeit würde wohl nicht mehr lange währen, denn die Basis, die man dazu brauchte, war Vertrauen. Das war schwer beschädigt und in einem Sumpf aus Lügen und Verletzungen versunken.
Nadine fühlte sich allerdings wenig von Lennart Petris Lob geschmeichelt, weil sie wusste, dass er sie damit für gewöhnlich auf berufliche Aufgaben einstimmte, die sie für Wochen absorbieren würden, und ihr eine arbeitsreiche Zeit bevorstand.
»Frau Hansen! Wie Sie wissen, müssen wir alle Opfer bringen, um das Schiff auf Kurs zu halten«, sagte Lennart Petri im Brustton der Überzeugung und fast schon ein wenig pathetisch.
Nadine fand, dass das Wort »Erfolgskurs« treffender war. Sie konnten sich schließlich über volle Auftragsbücher nicht beklagen. Sie wusste, dass es nun galt, das Privatleben zurückzustellen. Das war zwar das kleinere Problem, doch sie ahnte, dass sich ihre Leistungskurve in nächster Zeit wahrscheinlich nach unten bewegen und Lennart Petri darüber überrascht, wenn nicht gar enttäuscht sein würde. Wenn es nach ihm ginge, hätte Sylt eine zehnmal höhere Bevölkerungsdichte, und auf jedem freien Gelände stünde eines seiner Häuser, und nur Dünen- und Strandlandschaften blieben verschont. Er wirkte immer so ausgeglichen. Sein Platinring am Ringfinger verriet, dass er verheiratet war. Er trug ihn schon mehrere Jahre. Eigentlich konnte er nicht viel Zeit für seine Frau haben, denn er arbeitete oft bis spät in die Nacht und war immer sehr früh in seinem Büro anzutreffen. Lennart Petri war ein richtiger Workaholic.
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