Plötzlich sah er ein kleines Licht, einige Zentimeter vom Boden entfernt, auf ihn zukommen. Jetzt bekam auch er es richtig mit der Angst zu tun. Wandelnde Lichter hatte er noch nie gesehen, und das war ganz schön unheimlich in der abendlichen Dämmerung. „Rehsi“, flüsterte er, „R e h s i schau doch mal!“ Sie aber hörte nichts in ihrem Wehklagen. Indessen kam das Licht immer näher. Und als es schon ziemlich nah war, entdeckte Rehnald, dass das Licht eine kleine Laterne war, die vom dem Wichtelmännchen getragen wurde. Erleichtert sprach er: „Rehsi, nun heul doch nicht, hier kommt jemand, der uns helfen kann.“
Das Wichtelmännchen hob seine Laterne und schimpfte gleich wieder los: „Zuerst wird einem der Garten ruiniert, und kaum will man sich nach einem anstrengendem Tag zur Ruhe legen, wird man von diesem schrecklichen Geheule aufgeschreckt. Was soll denn dieser Lärm?“ „Ach bitte“, sprach jetzt Rehsi mutig, „schimpf doch nicht mit uns. Deinen Garten haben wir bestimmt nicht mit Absicht zerstört und deine Ruhe wollen wir dir wirklich gönnen. Aber wir haben uns verlaufen und wissen den Weg nicht mehr zum Nachtquartier unserer Herde. Du kennst dich hier gewiss gut aus und kannst uns vielleicht helfen.“ „Auskennen? Pah! Mein ganzes Leben habe ich hier im Wald verbracht, jeden Baum, jeden einzelnen Stein kenne ich in- und auswendig. Aber helfen? Wieso sollte ich euch helfen? Nichts wie Ärger hat man mit euch. Und außerdem: Was habe ich denn davon?“, schnaubte er immer noch zornig. Rehsi sah verzweifelt zu Rehnald, und der konnte seine Enttäuschung auch nicht verbergen. „Ach, liebes Wichtelmännchen“, sprach nun er: „Bitte verzeih uns, wir wollten dir bestimmt nichts Böses und gerne würden wir dir deine Mühe auch lohnen, aber sieh’ uns an, wir haben ja selbst nichts. Was könnten wir dir schon geben?“ Das Wichtelmännchen sah die beiden nachdenklich an. Er legte seine Hand an sein Kinn und rieb hin und her, dabei ging er auf und ab. „Mal sehen“, sagte er. „Ihr wollt mir also etwas dafür geben?“ „Gewiss“, sprach Rehnald, und Rehsi nickte hoffnungsvoll dazu.
Der Wichtelmann nickte und sprach: „Nun gut, ich wüsste da schon etwas: die Tupfen auf eurem Fell!“ Die beiden Rehkinder sahen sich an. „Wie soll das gehen?“, fragte Rehnald verwundert. „Das muss euch nicht interessieren. Wollt ihr nun nach Hause zu eurer Mutter oder nicht?“, polterte er und fügte dann hinzu: „Ach, was mache ich denn eigentlich hier, ihr stehlt mir ja nur meine Zeit“, packte seine Laterne, die er abgestellt hatte, und schickte sich an zu gehen. „Bitte“, flehte Rehsi, „geh nicht!“
Das Wichtelmännchen drehte sich um, sah beide fragend an. Voller Verzweiflung nickten sie. „Nun gut, ich habe euer Wort, so soll es geschehen!“, brummte der Wichtelmann in seinen Bart. Er griff in seine Hosentasche und zog seine Hand als Faust wieder heraus. „Hier drin“, sprach er, „ist ein Glühwürmchen. Es wird euch den Weg zeigen.“ „Wir danken dir von ganzem Herzen“, sprach Rehsi, „es ist wirklich sehr freundlich von dir, uns zu helfen.“ „Freundlich? Pah! Ihr bezahlt mich doch! Ein Geschäft ist das, nichts weiter als ein gutes Geschäft. Macht, dass ihr weiter kommt, und passt das nächste Mal besser auf“, schimpfte der schlecht gelaunte Wichtelmann. „Danke“, sagte Rehnald noch. Aber da hatte das Wichtelmännchen die Faust schon geöffnet und das Glühwürmchen flog davon, vorbei am Baumstumpfhaus und immer weiter.
„Schnell“, sagte Rehnald zu Rehsi, „komm schon, sonst ist es verschwunden.“ Flink war Rehsi auf den Beinen und beide eilten geschwind dem Lichtchen hinterher, ohne sich noch einmal umzudrehen. Als sie aber auf Höhe des Baumstumpfes waren, fielen ihre Tupfen vom Fell ab und verwandelten sich in Silbermünzen, die auf dem weichen Waldmoos zu liegen kamen. Die beiden bemerkten es nicht einmal, so sanft und lautlos ging das vonstatten.
Es dauerte gar nicht lange, da sahen sie im trüben Mondlicht auf einer Lichtung ihre Herde stehen, und da war auch ihre Mutter, die sich schon solche Sorgen gemacht hatte. „Ach, wie bin ich froh, dass euch nichts zugestoßen ist“, sprach sie erleichtert und liebkoste eines ihrer Kinder nach dem anderen. Aber als sie ihren Kopf an ihren Kinder rieb, stutzte sie: „Ja Kinder, was ist denn mit eurem Fell geschehen?“ Die zwei besahen sich etwas verwundert, stellten aber fest, dass sie jetzt viel erwachsener aussahen. Da zuckten beide nur mit den Schultern und schauten ganz unschuldig drein. „Nun ja, was soll’s, ich hab euch wieder, das ist das Wichtigste“, sprach die Mutter. So begab sich die ganze Herde zu ihrem Schlafplatz und alle lebten glücklich bis an ihr Lebensende.
Und so kam es, dass auch heute noch alle Rehkitze ab einem bestimmten Alter ihre Tupfen verlieren, und wer ganz genau hinsieht, kann vielleicht einmal ein Wichtelmännchen im Wald beobachten, wie es mit einem Sack auf dem Rücken die herabgefallenen Silbermünzen vom Waldboden aufsammelt.
Von Manuela Maurus aus Willofs
Einst lebte ein Mädchen namens Nula in einer kleinen Hütte im Bubbelwald. Dort gab es wundersame Wesen, die durch die Lüfte schwebten, immerzu Geräusche wie ein kleines Kinderkichern von sich gaben und eben aussahen wie kleine Seifenblasen. Nula war mit sich und der Welt zufrieden und machte sich nichts daraus, allein zu sein. Schließlich waren da Moppel, das Eichhörnchen, und Peppo, das Reh. Und es gab noch viele, viele andere Tiere, die Nulas Freunde waren.
Eines Tages klopfte es an der Tür. Nula zuckte zusammen. Keiner ihrer Tierfreunde war dazu fähig, an die Tür zu klopfen. Da hatte Nula dann doch ein bisschen Angst, und als nach einer Weile dann doch ihre Neugier siegte und sie die Tür öffnete, war da weit und breit niemand zu sehen. Sie wollte schon wieder hineingehen, als sie sah, dass etwas auf dem Boden vor der Hütte lag. Etwas, das das Mädchen noch nie zuvor gesehen hatte. Es war klein und golden, rund und hing an einer langen Kette. Schnell steckte sie es in die Tasche ihres Kleidchens und ging ins Innere der Hütte, um es genauer zu begutachten. Auf der Vorderseite des runden Anhängers waren kunstvolle Verzierungen angebracht, die alle zusammen den schönsten Schmetterling zeigten, den Nula bis dahin gesehen hatte. Plötzlich fiel ihr in der Stille des Waldes etwas auf. Irgendetwas hatte sich verändert. Irgendetwas… Wieder schaute sie den kleinen Schmetterling an und – Moment! Sie hielt ihn sich ans Ohr. Das war es! Der Schmetterling tickte langsam, aber in stetem Takt vor sich hin.
Fasziniert begutachtete sie wieder den Anhänger und entdeckte einen kleinen Knopf, den sie langsam und mit Bedacht drückte. Mit einem kleinen Klicken sprang der Anhänger auf. Zum Vorschein kamen zwölf Zahlen, die der Reihenfolge nach in einem Kreis angeordnet waren. Drei Linien, von denen sich eine stetig im selben Takt bewegte und von dem das Geräusch ausging, befanden sich in der Mitte dieses Kreises. Eine Weile rätselte Nula, was das sei und fragte dann ihre Waldfreunde. Doch keines von den Tieren hatte so etwas jemals gesehen. Frustriert, aber immer noch das geheimnisvolle Geschenk bewundernd, legte sich Nula schließlich ins Bett. Draußen war es schon dunkel geworden und im tickenden Rhythmus des Schmuckstücks schlief sie schließlich schnell ein.
Nula schreckte hoch. War da wieder ein Klopfen oder hatte sie das nur geträumt? Draußen war es schon hell und die Vögel zwitscherten; Betty und Mildred gaben sich ganz besonders viel Mühe. Nula stand auf, schlich vorsichtig zur Tür und öffnete sie einen Spaltbreit. Als jedoch wieder niemand dort war, war sie sich fast sicher, geträumt zu haben, schaute jedoch trotzdem zu Boden. Ihr Herz setzte dabei einen Schlag aus. Denn da am Boden, wo gestern noch die Kette lag, befand sich ein kleiner zusammengefalteter Zettel. Nula hob ihn auf, machte sich diesmal aber nicht die Mühe, zuerst in die Hütte zu gehen. Auf dem kleinen Blatt Papier stand:
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