Der Rosen Träume reifen,
und reduzieren sich auf Dornen und Knospen.
Der Trauerzug der Menschen, die vor das Grab von Wilhelm Lenz traten, schien kein Ende zu nehmen. Im Augenblick stand die Gruppe der Männer in einer Reihe vor ihr, die die drei Rosen in der Hand hielten. Jeder von ihnen stellte sich kurz vor das offene Grab, nahm Haltung an und hielt die Rosen für einen Augenblick an die Herzgegend. Dann warfen sie die Rosen in das offene Grab, auf den Sarg.
Wilma schaute genau hin. Der Mann von vorher, der neben ihr gegangen war, verhielt sich genauso. Er gehörte zu den jüngeren von ihnen. Einer der letzten in der Reihe, er war sicherlich der älteste der Gruppe, blieb nicht stehen, sondern bückte sich langsam mit seinen Blumen. Es machte ihm sichtlich Mühe. Er streckte seinen Arm so weit wie möglich aus, und ließ die Rosen vorsichtig in die Tiefe gleiten. Wilma war berührt von dem Anblick. Die nächsten warfen ihre Blumen wie üblich in die Sarggrube. Es kam ihr plump vor. Manche taten es so heftig, als hätten sie Angst zu nah an den Sarg zu kommen. Störend empfand sie auch das Geräusch, den dumpfen Laut, der zu hören war, wenn die Blumen auf dem Holz aufkamen. Der Ton vom Holz verlor sich, die Blumen fielen auf die vielen, die bereits unten lagen. Sie war auf vielen Beerdigungen gewesen. Dies war ihr bis jetzt noch nicht aufgefallen. Nicht einmal bei ihrer Mutter.
Sie blieben, bis alle Abschied genommen hatten, neben dem Grab stehen. Frau Zeise blieb auch bei ihnen. Obwohl in der Todesanzeige nicht erwähnt worden war, dass von Beileidsbekundungen im Friedhof doch höflich Abstand genommen werden möchte, gab niemand den Vieren die Hand und wollte Mitgefühl zeigen. Wilma betrachtete dies nicht als Abwertung von seiten der anderen. Es schien sich einfach so ergeben zu haben. Hätte einer damit angefangen, hätten es alle anderen nachgemacht.
Als der letzte gegangen war, legten Charlotte und Frau Zeise ihre Blumensträuße auf den Boden, an den Rand der Graböffnung. Frau Zeise weinte. Charlotte legte ihren Arm um ihre Schultern. Frau Zeise schaute sie dankbar an, und sagte dann: „Nun müssen wir aber auch ins Hotel. Wir können die Gäste nicht warten lassen“. Sie hatte im nahegelegenen Hotel „Zur Post“ den Empfang nach der Beerdigung bestellt.
Die geladenen Gäste waren nur wenige, im Vergleich zu denen, die gekommen waren. Und so konnte man das Auto jetzt, nachdem die anderen abfuhren, auf dem Parkplatz vor dem Friedhof, ohne andere Friedhofsbesucher zu behindern, stehenlassen.
Der Himmel war nach wie vor trüb und mit grauen Wolken verhangen. Nach einem wirklichen Regenguss sah es jedoch nicht aus. Ein leichter Wind war aufgekommen. Die meisten gingen die kurze Strecke zum Hotel zu Fuß. Man fing an, miteinander zu sprechen. Einige hängten sich vertraut bei ihrem Nebenmann unter.
Tränen sind Trauer nicht gleich zu setzen.
Im Hotel „Zur Post“ war im großen Konferenzzimmer, man nannte es auch den kleinen Ballsaal, für die Trauergesellschaft gedeckt worden. Frau Zeise hatte alles selbständig angeordnet. Sie war nun seit zwanzig Jahren im Hause Lenz als Haushälterin beschäftigt. Wilhelm Lenz hatte ihr freie Entscheidung bei der Haushaltsführung gelassen. Wilma hatte sich nur höflichkeitshalber angeboten. Sie war davon ausgegangen, dass Frau Zeise keine Hilfe brauchte, um einen den Empfang nach der Beerdigung zu veranlassen. Sie hatten lediglich die Traueranzeigen zusammen besprochen.
Charlotte meinte, es wäre schade, meistens nur bei traurigen Anlässen zusammenzukommen. Ihre Mutter hatte immer regelmäßige Familientreffen organisiert. Seit sie nicht mehr lebte, fanden diese nicht mehr statt. Maria, geborene Lenz, war die Schwester von Wilhelm gewesen und das einzige Mädchen der vier Kinder. Sie hatte längere Zeit als Witwe zurückgezogen gelebt, und war vor zwei Jahren von einer langjährigen Krankheit erlöst worden. Die Familientreffen waren ihr eine Abwechslung gewesen.
„Es ist auch schade, dass unsere Familien nicht abkömmlich waren“, seufzte Sebastian. Er setzte sich neben Charlotte.
„Was heißt, nicht abkömmlich?“ meinte Thomas. Jetzt, da sie älter wurden, sahen sie sich immer weniger ähnlich. Dass er der Zwillingsbruder von Sebastian war, hätte man nicht vermutet. „Abkömmlich? Keine Zeit haben sie. Keine Lust haben sie. Bei mir hatte jeder eine andere Ausrede. Wichtige Termine hätten sie alle. Und außerdem wären sie erst vor drei Monaten übers Wochenende bei Onkel Wilhelm zu Besuch gewesen. Wenn ich mich nicht täusche, haben sie in diesem Hotel gewohnt.
Das Andenken, ihn nochmals lebend gesehen zu haben, wäre ihnen viel wichtiger, als eine Stunde beim Begräbnis zu sein. Wenn jemand keine Lust auf eine Beerdigung hat, hängt er sich immer an der lebendigen Erinnerung auf.“ Zuhause hatte er alles versucht, seine Familie dazu bewegen, mit zur Beerdigung zu fahren. Er fühlte sich durch ihr Verhalten bloßgestellt. Sein einziger Trost war, dass es den anderen auch so ging.
Wilma war es peinlich. Sie meinte: „Was soll es? Ärgert euch doch nicht. Es ist es nicht wert. Wenigstens seine Nichten und Neffen haben ihm die letzte Ehre erwiesen. Ihr hattet ja auch alle eine Anreise und müsst hier übernachten. Es wäre auch ein bisschen viel gewesen mit dem ganzen Tross. Da sind gleich zwei bis drei Tage weg. Ich bin am Ort. Bei mir ist es einfach“.
„Da hast du auch wieder Recht. Und du tust dich sowieso leichter, liebe Wilma, du bist allein. Was nützt eine Familie, wenn sie sich dann drückt? Und ob man es denkt oder hinter vorgehaltener Hand sagt, erben wollen sie alle“, meinte Charlotte. Es war bei ihr zu Hause über die zu erwartende Erbschaftssteuer diskutiert worden. An dem Thema an sich hatte sie nichts auszusetzen. Aber die Art, wie das Gespräch abgelaufen war, empfand sie als widerlich. Sie hatte sich ernsthaft vorgenommen, ein Testament zu schreiben. Eines, in dem ihr Willen ganz klar zu befolgen war. Und wenn sie dann auch nur über die Steuern reden würden.
„Sag mal, Wilma, jetzt bist du in ein paar Monaten vierunddreißig und immer noch nicht verheiratet. Hast du eigentlich nie daran gedacht?“ wandte sich Thomas an Wilma. Er schaute sie charmant an. Lächelte, als wollte er mit ihr flirten. Er wusste, wie gut er mit den Augen lächeln konnte. „Du bist hübsch. Und jetzt eine gute Partie, schon vom Erbe hergesehen. Und als Kinderärztin kannst du dich sicherlich gut ernähren, und ein bisschen mehr. Es gibt doch so viele brave Männer, die gerne heiraten würden. Magst du einfach nicht?“ Thomas kam mit seinem Gesicht näher zu Wilma. Sie befürchtete, er würde sie küssen, und rutschte zur Seite.
„Ich will nicht als gute Partie weggehen. Wenn eine brave Frau einen braven Mann heiratet, ergibt das noch lange kein braves Ehepaar. Wenn eine reiche Frau einen reichen Mann heiratet, ergibt es noch lange kein reiches Leben.“, meinte sie. Sie sagte es, als hätte sie diesen Satz einstudiert. Es schien ihr automatisch von den Lippen zu gehen. Es wirkte regelrecht stereotyp. Hätte sie jemand heiraten sollen, weil sie genügend Geld hatte? Sie wollte noch etwas dazu erklären, da mischte sich Frau Zeise ein: „Für eine große Dummheit oder ein kleines Glück ist es nie zu spät.“ Frau Zeise sagte das mit der größten Selbstverständlichkeit der Welt.
Alle schauten sie überrascht an. So spontan hatte ihr niemand so einen Satz zugetraut. Frau Zeise machte ein so überzeugtes Gesicht, als wüsste sie, dass sie sich morgen verlieben würde. Ihr Gesicht hatte plötzlich nichts mehr mit Trauerfeierlichkeit zu tun. Die schien sie im Moment vergessen zu haben.
„Ja, Frau Zeise, Sie müssen das ja auch wissen. Sie sind ja höchstens Anfang sechzig“, stimmte Thomas ihr zu. Ihm gefiel Frau Zeise. Er hatte sie nicht oft gesehen. Sie war ihm sympathisch gewesen, von Anfang an. Er machte sich in keiner Weise lustig über sie.
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