Während der einen Woche, in der Mutter im Krankenhaus blieb, entwickelte Max einen nie vermuteten Starrsinn. Es lag vor allem daran, dass seine Großmutter ihn so gut wie nie allein ließ. So konnte er von dem Hausmädchen nicht in die Arme genommen werden. Er kam um das Vergnügen ihren Duft erleben zu dürfen. Er verweigerte jegliche Nahrung, außer Grießbrei. Man gab nach. Grießbrei und ein paar Gläser Milch nahm er am Tag zu sich. Zu anderem Essen ließ er sich nicht überreden. Vorher war er von Grießbrei nicht so begeistert gewesen. In den Grießbrei kam abwechslungsweise Obst oder vom Huhn kleine Fleischstückchen. Huhn war sonst sein Lieblingsessen. Morgens gab es einen Löffel Honig darüber. Aber Grießbrei als Basis musste sein. Das hatten sie erkannt, und hielten sich danach. Das Mädchen badete manchmal heimlich ihre Hände in Milch. Sie wollte nicht, dass es jemand wusste. Ihre Hände wirkten sehr gepflegt. Bei den täglichen Grießbreirationen für Max konnte sie nun bequemer eine Portion Milch für sich abzweigen. Als Diebstahl direkt betrachtete sie es nicht.
Max wollte untertags beschäftigt sein. Da es in dieser Woche regnete, hatte man ihm beim täglichen Spaziergang Gummistiefel und seinen gelben Regenmantel angezogen. Seine Großmutter ging mit ihm zu seinem Vater in die Firma. Max zeigte kein großes Interesse. Er küsste ihn brav auf den Mund, aber groß vermisst schien er ihn zu Hause nicht zu haben. Das Treppenhaus in dem großen Gebäude faszinierte ihn. Er hatte einen Ton gehört, und das Echo bemerkt. Er versuchte es auch. Mit seiner kleinen Stimme brachte er eine enorme Lautstärke zustande. Zuerst war es seiner Großmutter etwas peinlich. Sie fürchtete, es würde stören. Dann fand sie auch Spaß daran, wie Max trällerte und heulte. Er versuchte den Wind nachzuahmen. So wie es die Erwachsenen machten, wenn sie aus einem Kinderbuch vorlasen. Immer wenn er ein paar Töne von sich gegeben hatte, hörte er ins Treppenhaus dem Echo nach. Der verstärkte Hall, den er hörte, den hatte er verursacht. Das kam von ihm.
Gleich nach dem ersten Spaziergang hatte er sich geweigert, seine Stiefel auszuziehen. Man ließ ihm seinen Willen. Er lief in Stiefeln im Haus herum. Da Mutter und Kind im Krankenhaus wohl auf waren, war es abzusehen, bis alles wieder seine gewohnte Ordnung hatte. Das Hausmädchen fühlte sich nicht verantwortlich. Die Mutter der Hausfrau hatte jetzt das Sagen. Am Abend als Max ins Bett gehen sollte, bestand er darauf, mit den Gummistiefeln und seinem Regenmantel, statt in seinem Schlafanzug, schlafen zu gehen. Sein Vater kam auf die Idee mit Mutters Strümpfen. Er zeigte Max Kniestrümpfe seiner Mutter und schlug vor, diese statt der Stiefel ins Bett anzuziehen. Statt dem Regenmantel legte er ihm ein Nachthemd von ihr hin. Max war von der Idee begeistert. Alle waren begeistert, wie schön er in dem Nachthemd, das ihm natürlich viel zu groß war, aussah. Max gefiel es, wie sie ihn bewunderten. Er ließ sich dann problemlos ins Bett bringen.
Die Woche war vorbei. Max befand sich, unter Aufsicht seiner Großmutter, im Hof und watete in einer kleinen Pfütze, die sich nach dem langen Regen gebildet hatte, als das Auto langsam hereinfuhr. Vater hatte Mutter und den kleinen Wilhelm aus dem Krankenhaus geholt. Max begriff, dass seine Mutter nach Hause kam, und erinnerte sich augenblicklich daran, dass sie von einem Baby gesprochen hatte. Großmutter konnte ihn gerade noch festhalten. Sonst wäre er in das Auto gelaufen. Mutter mit dem kleinen Wilhelm auf dem Arm blieb im Auto sitzen, und Max kletterte zu ihr. Er weinte vor Freude.
Diese Zuneigung blieb ein Leben lang. Max entwickelte nie eine Aversion gegen seinen Bruder Wilhelm. Es gab nie einen Streit zwischen den beiden. Wollte Wilhelm einmal ein Spielzeug von Max haben, so überließ dieser ihm das ohne weiteren Kommentar, und wendete sich einer anderen Sache zu. Wilhelm kam allerdings auch nicht zu oft, um mit Max zu spielen. Wilhelm war schon als Kind ein Einzelgänger, und beschäftigte sich am liebsten allein.
Später in der Pubertät meinte Max, sein Name wäre viel zu kurz. Er stellte sich bei Fremden mit seinem zweiten Namen als Leonhard vor. Es gab dadurch einige Missverständnisse. Nach zwei Jahren ließ er es dann wieder sein, und kehrte zu Max zurück.
Max kam in der Schule gut voran, und entschied sich für ein Architekturstudium. Er arbeitete an der Planung von öffentlichen Gebäuden und Kirchen. Er hatte nie, außer für sein eigenes Haus, einen Plan für ein Einfamilienhaus entworfen. Es stand nie zur Diskussion an, dass er in der Firma seines Vaters arbeiten sollte. Während seines Studiums, im Praktikumssemester, lernte er seine spätere Frau kennen. Die Liebe zum Detail verband die beiden. Der einzelne Teil, der den Bestand des Ganzen ausmachte, war ihnen wichtig.
Die Liebe ist es – die Liebe zum Detail, sie lässt es zur Hauptsache werden.
Seine Frau wurde schwanger und erwartete Zwillinge. Die Zwillinge kamen vier Wochen zu früh zur Welt. Max freute sich über seine beiden Kinder Sebastian und Thomas. Sie waren gesund. Aber ein wenig Enttäuschung fühlte er, dass sie zu früh gekommen waren. Er hatte erwartet, sie würden ihre Geburt so spannend wie er seinerzeit hinauszögern. Zwillinge kommen immer früher, das bestimmt schon die Platznot. Dieses Argument ging an ihm vorbei. Bei diesen beiden Söhnen blieb es.
Max und seine Frau führten eine harmonische Ehe. Unterschiede ziehen sich an. Sie waren der Meinung, nur Gleiches würde es tun. Sie waren sich in so vielen Ansichten einig, dass der eine für den anderen, wenn der gerade nicht da war, eine Entscheidung treffen konnte. Der andere stimmte nachträglich selbstverständlich zu.
Als Sebastian und Thomas schon aus dem Haus waren, sie studierten an der Universität, zog Max sich eine heftige Lungenentzündung zu. Er war vorher nie krank gewesen. Schon dass er sich ins Bett legte, war ungewöhnlich. Seine Frau war beunruhigt, und pflegte ihn sehr aufmerksam. Der Arzt kam jeden Tag. Eine Einweisung ins Krankenhaus hatte keiner für notwendig gehalten. Das Fieber war nicht übermäßig hoch, der Allgemeinzustand des Patienten nicht Besorgnis erregend. Nach zwei Wochen starb Max. Es war niemand ein Vorwurf zu machen. Seiner Frau nicht, dem Arzt nicht. Mit dem Tod hatte man nicht gerechnet.
Träume ich von Schmetterlingen –
treibe ich im Wind, eine Blüte suchend.
Sie wird das Sehnen wiegen –
meine Seele ihren Schlaf finden.
Zunächst machte es für Außenstehende den Eindruck, dass seine Frau nicht sehr um ihn trauerte. Sie weinte kaum, sie klagte nicht um ihn. Ihr Umfeld wollte sie trösten, fand aber keinen Bedarf bei ihr. Man wusste sich kein richtiges Bild zu machen. Sie zog sich von den anderen zurück. Sechs Wochen nach der Beerdigung ihres Mannes starb auch sie. Einfach so, ohne sichtlich krank gewesen zu sein. Sie hatte ihre Söhne, Sebastian und Thomas allein gelassen, und war ihrem Mann gefolgt. Die beiden waren noch nicht verheiratet, als sie ihre Eltern beerdigten. Geld, dass sie ihr Studium problemlos fortsetzen konnten, hatten ihre Eltern ihnen genügend hinterlassen.
Конец ознакомительного фрагмента.
Текст предоставлен ООО «ЛитРес».
Прочитайте эту книгу целиком, купив полную легальную версию на ЛитРес.
Безопасно оплатить книгу можно банковской картой Visa, MasterCard, Maestro, со счета мобильного телефона, с платежного терминала, в салоне МТС или Связной, через PayPal, WebMoney, Яндекс.Деньги, QIWI Кошелек, бонусными картами или другим удобным Вам способом.