„Papa, komm! Hier ist noch Platz!“
Der Kleine trampelt auf meine Füße und schmeißt sich auf den Fensterplatz mir gegenüber. Ich blicke in ein sommersprossiges Jungengesicht mit leuchtend blauen Augen. Der Vater, schwarzer Anzug, schwarze Krawatte, betritt das Abteil, nickt mir zu und ermahnt seinen Sohn: „Oskar, nicht so wild!“
Dann nimmt auch er Platz, zieht sich die Krawatte vom Hals, steckt sie in seine Jackentasche und wischt sich den Schweiß von der Stirn.
„Papa, wie soll es denn weitergehen, jetzt, wo ich die Mutter verloren habe? Wie soll das denn gehen ohne Mutter?“ Das Kind reißt die Augen auf und die Unterlippe zittert verdächtig.
„Ach, das weiß ich im Moment auch nicht. Lass mich jetzt erst mal telefonieren, damit ich unser Auto flottkriege.“
Der Junge blickt aus dem Fenster und ich beobachte, wie sich seine blauen Augen mit Tränen füllen. Schniefend zieht er die Nase hoch. Der Vater schnauzt ihn an. „Hast du kein Taschentuch?“
„Nee!“
Der Vater durchwühlt seine Jackentaschen, wird fündig und wirft Oskar ein Papiertaschentuch zu.
„Jetzt putz dir die Nase und hör mit der Heulerei auf. Wir kriegen das schon irgendwie hin.“
Oskars Vater zückt sein iPhone und wischt über den Bildschirm.
Was ist das denn für ein Vater? Der Sohn hat gerade die Mutter verloren, und er telefoniert wegen seines Autos in der Gegend herum, statt sein Kind zu trösten. Männer! Da ist mein Kühlschrank von einem Chefredakteur ein warmer Bollerofen gegen diesen Tiefkühlvater. Der Junge kann einem wirklich leidtun.
„Aha, die Elektrik, ich dachte es mir“, quatscht der Vater in sein iPhone. Der Junge schnäuzt sich, blickt zu mir herüber. Seine Tränen sind ihm offensichtlich peinlich. Dann huscht ein spitzbübisches Grinsen über sein Gesicht und er will mir etwas erzählen.
„Das war heute Morgen megalustig. Papa wollte das Auto aufschließen und alle Fenster sind rauf und runter gesaust.“
„Oskar, sei still! Ich versteh nichts!“, maßregelt der Vater den Sohn und quakt wieder in sein iPhone: „Ja! Jetzt kann ich sie besser verstehen. Ich sitze im Zug und die Verbindung ist sehr schlecht.“
Hast du Töne! Da zeigt das Kind ein bisschen Freude und lacht, schon wird es von diesem Despoten niedergemacht.
Ach, ich kann mich noch gut daran erinnern, als meine Mutter starb. Wie lange ist das her? Zehn Jahre, nein, sogar schon elf. Ich fühlte mich wie entwurzelt. Ich war fünfundzwanzig und habe lange gebraucht, um über diesen Verlust hinwegzukommen. Und dieser Knabe, der mir hier gegenübersitzt, ist höchstens zehn.
Ich schiele vorsichtig zu diesem Vatermonster hinüber. Was ist das nur für ein Mensch? Managertyp, eindeutig, das sieht man an den Schuhen und an den Socken. Alles akkurat aufeinander abgestimmt und teuer. Das ist nicht der Turnschuh-Papa, der am Sonntag mit seinem Sohn zum Fußballspiel fährt oder das ganze Wochenende mit dem Sohnemann ein Baumhaus baut. Wahrscheinlich wirft er spät abends, wenn er nach Hause kommt, noch einen Blick auf sein schlafendes Kind und erkundigt sich bei Mama nach den Schulnoten.
Ja, und diese Mama gibt es jetzt nicht mehr. Das arme Kind sitzt da und stiert todtraurig aus dem Fenster. Mütterliche Instinkte regen sich in mir. Finster blicke ich diesen sogenannten Vater an, der inzwischen das, ach so wichtige, Telefonat beendet hat und frage: „Darf ich Ihrem Sohn ein paar Gummibärchen geben?“
„Von mir aus!“ Der gleichgültige Unterton in der Stimme schockiert mich. Aber Oskar lächelt. Ich wühle in meinem Rucksack, finde zwei Päckchen Gummibärchen und überreiche sie dem strahlenden Kind.
„Wie sagt man?“
„Danke“, sagt Oskar.
Aha, Vati erzieht. Dieser Vater ist echt ein Arsch. Irgendwann, wenn er sein Kind ins Leben entlässt, ist alles Herzliche und Mitfühlende erloschen und dieses Kind wird sich so verhalten wie dieser Kühlschrank von Chefredakteur.
„Papa, ich muss mal!“ Oskar springt auf.
„Moment“, der Vater erhebt sich, „ich komme mit.“
„Nein, das kann ich alleine!“
„Okay, links den Gang runter.“
„Mensch, Papa, das weiß ich!“
Kaum hat Oskar das Abteil verlassen, klingelt Papas iPhone.
„Hallo, Schatz, schön, dass du anrufst“, säuselt er und wendet sich ab, „Du bist süß! ... Nein, wir sitzen im Zug ... Oskar ist gerade aufs Klo.“
Aha, das Kind ist nicht da und Papa kann ungestört Süßholz raspeln.
„Wann es passiert ist? Am Samstagnachmittag ... Mmh ... Ja, er war fix und fertig und hat den ganzen Abend geheult. Ich habe ihm gesagt, das gehört zum Leben dazu, damit muss man fertig werden ... Die Beerdigung? Ja, war okay für ihn. Ja, ja, ich glaube, er hat das gut verkraftet ... Ja, ich dich auch! Tschüss, mein Schatz!“
Papa lächelt versonnen. Das glaub' ich jetzt nicht. Kaum hat er die Mutter des Jungen unter die Erde gebracht, hat er ein neues Eisen im Feuer, nicht zu fassen. Das Kind hat seine Mutter verloren und er redet darüber, als wäre es eine sechs in Mathe. Unglaublich! Ich wende mich angewidert ab. So ein Kotzbrocken!
Vielleicht war er jedoch von der Mutter des Jungen geschieden und die Frau am iPhone war seine „Neue“. Wahrscheinlich nimmt er den Jungen jetzt ganz zu sich, nicht bloß alle vierzehn Tage am Wochenende. Na, der wird sich wundern. Nicht nur Urlaubsstimmung, Zoobesuche, Kino und Eis essen. Nee, nee, harter Alltag kommt nun auf diesen Wochenendvater zu.
Wieder klingelt das iPhone. „Hallo, meine Süße!“ Wieder dieses versonnene Lächeln. „Nein, Oskar ist gerade nicht da!“
Aha, die Luft ist rein, jetzt geht das Gesülze wieder los. Das grenzt schon an Vielweiberei!
„Also tschüss! Bussi!“
Was finden die Frauen nur an diesem Vatermonster. Okay, er ist groß, schlank, hat eine sportliche Figur und der Dreitagebart steht ihm verdammt gut. Aber gefühlsmäßig ist dieser Kerl der absolute Supergau. Das Kind ist definitiv länger als zehn Minuten weg und er telefoniert.
„Entschuldigen Sie bitte, wenn ich mich einmische, aber Ihr Sohn ist schon ziemlich lange weg.“
„Da machen Sie sich mal keine Gedanken, der kennt sich in Zügen aus. Der fährt jeden Tag mit dem Zug zur Schule.“
Verantwortungslos ist dieser Mensch auch noch, dachte ich's mir doch.
„Na ja, wenn Sie meinen.“
Jetzt zieht er sein Jackett aus und krempelt die Ärmel hoch. Er ist wirklich verdammt gut gebaut, hat kräftige, gepflegte Hände und ist an den Unterarmen tätowiert. Aber es ist ja allgemein bekannt, schöne Männer sind eitel und egoistisch.
„Ganz schön heiß, heute. Und dann diese schwarzen Klamotten.“
Großer Gott, jetzt wird er auch noch gesprächig, allerdings passe ich bestimmt nicht in sein Beuteschema. Der steht mit Sicherheit auf solche Model-Typen, Claudia-Schiffer-Verschnitt auf High-Heels.
„Sie waren heute auf einer Beerdigung?“
„Ja.“
Rums, die Abteiltür wird aufgestoßen und Oskar stürmt herein.
„Papa, das glaubst du jetzt nicht! Ich habe gerade mit dem Schaffner geredet und der konnte sich an mich erinnern, der war am Samstagnachmittag dabei. Er hat gesagt, es wäre ganz furchtbar gewesen und ich hätte ziemlich Pech gehabt! Es tat ihm richtig leid!“
Es muss ein Unfall gewesen sein, das wird mir schlagartig klar. Ich lasse alle schweren Unfälle, die sich in der letzten Woche in der Region ereignet haben, Revue passieren. An einen Unfall mit Todesfolgen, bei dem eine Frau ums Leben kam, kann ich mich nicht erinnern. Möglicherweise war der Unfall nicht in der näheren Umgebung und meine Zeitung hat nicht darüber berichtet. Aber dass der Schaffner dem Jungen im Zug sein Beileid ausspricht, ist so was von pietätlos. Dazu ist nur ein Mann fähig!
„Papa, was gibt’s heute Abend zu essen?“
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