„Du, Wesen aus einer anderen Welt, wirst meinen größten Wunsch erfüllen: tanzend zu sterben!“
Exel zeigte sich nicht allzu erstaunt über die Worte der Ballerina, da ihm bereits nach wenigen Augenblicken bewusst war, vor einer ungewöhnlichen Person zu stehen. Lina war ... wie sagte man hier auf der Erde? ... ein Medium, eine Person mit paranormalen Fähigkeiten.
„Zwar zweifle ich an der Korrektheit deiner Aussage, jedoch sag mir, warum glaubst du, dass ich einer anderen Welt entstamme?“
Diesmal antwortete Lina, indem sie Exel mit festem Blick direkt in die Augen sah.
„Während ich kurz zuvor auf der Bühne meine Pirouetten drehte, habe ich deinen Blick wahrgenommen und ein helles Licht gesehen. Deine Augen ließen das gesamte Theater erleuchten. Noch nie hatte ich etwas Ähnliches in meinem Leben gesehen.“
Exel nahm die zarten Hände der Ballerina in die seinen und erwiderte voller Wärme ihren Blick.
„Das Licht, das du wahrgenommen hast, hat nicht das Theater erleuchtet, Lina, sondern dich! Alle Schatten, die bis jetzt dein Inneres verdunkelt haben, werden entschwinden. Ich weiß, warum du dein Leben dem klassischen Ballett gewidmet hast.“
Bei diesen Worten entzog ihm Lina hastig die Hände und wich einen Schritt zurück.
„Du weißt also ...? Du kannst meine Gedanken lesen?“
Lina hatte noch nie einem Menschen den wahren Grund ihrer uneingeschränkten Hingabe zum klassischen Tanz offenbart. Zu recht, denn was hätte sie sagen können? Wo hätte sie mit ihrer Erklärung beginnen sollen? In ihrer Jugend in Russland? Als das Wort Optimismus weder in einem Wörterbuch geschweige denn in ihrem Inneren zu finden war? Damals hatte sie begonnen, sich den Tod herbei zu wünschen! Sie träumte jede Nacht von ihm, wenn sie die dünnen, kalten Bettlaken fester um sich zog, um ein wenig Wärme zu finden. Aber am Ende blieb immer nur die Kälte, die langsam in ihr Herz Einzug hielt. Dieses kleine Herz, das manchmal so wild vor sich her schlug, dass sie befürchtete, mit seinen Geräuschen alle zu wecken. Wie sie dieses Herz hasste! Gott, wie sie es hasste! Wie oft hatte sie auf dem Rücken liegend und in die Dunkelheit starrend gehofft, dass es einfach aufhören würde zu schlagen, einfach stehenblieb ... für immer!
„Aber dann habe ich irgendwann in meinem kindlichen Stolz gedacht: Herzstillstand, das ist zu banal! Wir alle müssen sterben, die Art des Todes macht den Unterschied. Und so folgte dem Stolz die kindliche Phantasie“, fasste Lina ihre Erinnerung in Worte, um Exel dann wieder ihren Gedanken folgen zu lassen.
In dieser Nacht hatte sie sich, weiterhin auf dem Rücken liegend und die dunkle Decke anstarrend, tausend Arten und Weisen ausgedacht, um ihrem elenden irdischen Dasein ein Ende zu setzen, eine aufregender als die andere: zum Beispiel von bösartigen Zellen verschlungen, die ihre inneren Organe zerstörten! Nein, das war etwas für alte Leute und auch nicht sehr romantisch. Apropos Romantik, fantasierte sie weiter. Ja, ein romantischer Tod müsste es sein! Aufgezehrt von einem kleinen Bakterium, einem treuen Komplizen: der Tuberkulose! Die Heldinnen des achtzehnten Jahrhunderts, vom Übel befallen, verließen die irdische Welt stets mit einem Lächeln auf ihrem totenblassen Antlitz ... und einem letzten Kuss ... mit dem sie den trauernden Geliebten infizierten. Auch der österreichischen Prinzessin Sissi schien das Schicksal dieses theatralische Ende bescheren zu wollen. Nur war der Geliebte zu weit entfernt ... und alles wurde daher auf einen späteren Zeitpunkt verschoben!
„Ich begann, Tag und Nacht über die für mich geeignetste Art des Todes nachzusinnen, ein dauernder quälender Gedanke, ein innerer Zwang, der keinen Ausweg fand, so dass ich irgendwann verzweifelt zu der Überzeugung kam, als alte Frau eines natürlichen Todes sterben zu müssen: wie unziemlich! Aber dann kam der Moment, den ich so lange erwartet hatte. Eines Tages wurde in der Tanzschule Der sterbende Schwan aufgeführt und plötzlich schien dieser Schleier, der mir lange Zeit die Sicht geraubt hatte, von meinen Augen zu fallen. Alles war klar und deutlich: ich, Lina, würde sterben wie dieser Schwan: tanzend! Und seit diesem Augenblick wurde das klassische Ballett Sinn und Zweck meines Lebens ... und meines Todes!“
„Niemals hast du eine bessere Wahl getroffen“, fügte Exel mit ruhiger Stimme hinzu, „aber niemals war das Motiv für diese Wahl ein größerer Fehler!“ und umfasste erneut Linas Hände. „Dein Herz sei von Licht erfüllt! Die dunklen Schatten gehören der Vergangenheit an! Lebe dein Leben, beachte und schätze dieses einmalige Erlebnis, dann wirst du dem Tode irgendwann zufrieden in die Arme tanzen. “
Bei diesen Worten des Außerirdischen durchströmte ein Schaudern den zarten Körper der Tänzerin, ein Zittern, das sie schon viele Male in ihrem Leben empfunden hatte, jedoch brachte es diesmal nicht Kälte und Dunkelheit, sondern wohlige Wärme und ein Gefühl der Sicherheit. Nach einigen Augenblicken erhob sie sich sichtbar gestärkt auf die Spitzen ihrer Ballettschuhe, sah ihrem seltsamen, mit magischen Kräften versehenen Gegenüber selig in die Augen und sagte, als sei es das Normalste auf der Welt, einfach:
„Exel, nie mehr werde ich den sterbenden Schwan mit dem Gedanken an den Tod tanzen!“
Dann entzog sie dem Mann beide Hände, um ihm die rechte erneut in eleganter Geste entgegenzustrecken.
„Komm, unglaubliches Wesen, lass uns tanzen. Du und ich, ganz alleine!“
Exel, leicht aus der Fassung gebracht, ergriff die zarte Hand der Tänzerin, die ihn vergnügt lächelnd zur Tür des Kämmerchens zog.
„Auch ich kann manchmal ins Herz der Menschen blicken“, gestand sie verschmitzt und zwinkerte ihm glücklich zu.
Das nach Ende der Vorstellung leere Theater lag in völliger Stille einladend vor ihnen und wurde Zeuge des wunderbarsten Schauspiels, das sich ein Mensch oder welches Wesen auch immer vorstellen konnte. Die Intensität des Momentes erzeugte eine Woge des Glücks, die sich über das Gebäude hinaus auf den gesamten Planeten ergoss. Schade, dass es den armen Erdenbewohnern nicht gegönnt war, sie wahrzunehmen.
Umso unglaublicher scheint es, dass gerade derjenige, der niemals die wahre Bedeutung des Wortes Glück erfahren sollte, der sogenannte Teufel, als einziger in der Lage war, diese Woge wahrzunehmen, auch wenn der Anblick ihm fast unerträgliche Schmerzen bereitete. Er ließ den kleinen Dämon los, erhob beide Hände zur Faust geballt gegen den nächtlichen Himmel und sprach mit zischenden Lauten die magische Formel seines Fluches aus, die er mit den Worten beendete:
„Verfluchter Exel, allzu glücklich bist du in diesem Moment! Aber dem werde ich Abhilfe schaffen, und zwar bald, das verspreche ich dir!“
Dann fuhr er fort, seinen Sohn zu streicheln, der angestrengt (glücklich?) versuchte, einer Eidechse die Haut abzuziehen.
Gina und Jeff dagegen waren in diesem Moment damit beschäftigt, sich ihre anders gestalteten Glücksmomente zu verschaffen, und zwar in ihrem großen Doppelbett, aus dem ein dauerndes Stöhnen und Seufzen zu hören war, das mit menschlichen Ausdrucksweisen nicht mehr viel zu tun hatte. Um ehrlich zu sein, hatte Jeff nach einem anstrengenden Tag auf der Jagd nach Dieben, Vergewaltigern und ähnlicher Gesellschaft und dem Abend in Las Vegas gehofft, möglichst bald in den verdienten Schlaf zu sinken, aber dann wollte er seine geliebte Partnerin nicht enttäuschen, was ihm dank der heimlich genommenen kleinen blauen Tablette zu gelingen schien.

Die ebenfalls müde Gina, vom Gegenteil überzeugt, wollte ihren von Begierde strotzenden Jeff nicht vor den Kopf stoßen und gab sich die größte Mühe, ihren Part mit solch inniger Überzeugung zu spielen, dass ein eventueller Zuschauer die zweifellos hervorragenden künstlerischen Fähigkeiten der Dame bewundert hätte.
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