Eingefügt in den großen historischen Rahmen, schärfen sich nach und nach die Konturen eines gigantischen Gesamtbildes, das sich in seiner ganzen überwältigenden Wucht erst abzeichnet, wenn die Fäden der Einzelschicksale zum Strang über der großen Schädelstätte Ostfront verflochten werden. Im Fokus dieser Betrachtung steht die alles entscheidende erste Phase des Unternehmens „Barbarossa“, die Zeit vom Sommer 1941 bis zum Frühjahr 1942. Dabei konnte und durfte der Verfasser den Dokumenten keine Zensur auferlegen. Erst der Schock über die oft unfassbare Gewalt lässt Anteil nehmen und macht Abkehr von der stets lauernden Anziehungskraft des Bösen möglich. Starke Erschütterung kann helfen, Augen zu öffnen – zu erkennen, wie es damals wirklich war, als der beißende Rauch der Brände den Himmel im Osten verhüllte und die Augen mit Tränen erfüllte. Man empfindet Demut, ist dem Schicksal dankbar dafür, die größte Knochenmühle aller Zeiten nur durch das Fernrohr der Geschichte betrachtet und nicht am eigenen Leib erfahren zu haben. So wie mein Großvater, der in diese Hölle blickte und dazu beitrug und nicht vergessen konnte, dass der unberührte weiße Schnee auf dem Ilmensee zu einem riesigen, schmutzig rot getupften Leichentuch wurde.
Vaters alter Herr blieb 1944 auf dem „Felde der Ehre”, gefallen am 26. September an der Westfront bei Aachen. Mit 40 Jahren noch zum Endsiegen eingezogen, gab er sich keinen Illusionen mehr hin.
Zum Abschied sagte er: „Ich komme nicht wieder.”
Ja, wieder kommt immer nur der Krieg – jedenfalls solange es Sieger gibt. Und der Wahnsinn beginnt von neuem. Der Ostfront-Veteran Johannes Werner Günther hat dafür sehr eindringliche Worte gefunden:
„Wenn du all das Grauen eines Krieges gesehen hast, wenn du gesehen hast, wie während eines Angriffes dir ein Kamerad entgegenkommt, mitten im Kampfgetümmel, und hält statt seinem Gewehr seinen abgeschossenen Arm in der Hand, und du hörst ihn schreien, er will ihn wieder dran haben, wenn du den Wahnsinn und das Wissen, er muss sterben, in den Augen eines starken Mannes siehst, dessen Bauch ein Granatsplitter aufgerissen hat und der seine Gedärme in den Händen hält mit zum lautlosen Schrei geöffneten Mund, da ihm der furchtbare Schrecken des Geschehens die Sprache nahm, wenn du gesehen hast, wie unschuldige Menschen – Zivilpersonen – erschossen werden, nur um ein Exempel zu statuieren, die Schreie und das Betteln um Gnade von Frauen und Kinder gehört hast, die Hilferufe der Verwundeten, denen du nicht helfen konntest, weil du mitten im Kampf warst, wenn du all die Toten gesehen hast, die im Dreck lagen und oft nicht geborgen und begraben werden konnten. Wenn du all dieses Grauen gesehen hast, wo bleibt da noch der Heldenmut, wo die aufgezungene Pflicht, fürs Vaterland zu sterben? Nur der Überlebenswille poltert noch durch dein Gehirn und verdrängt Erbarmen und Mitleid.“ 5 5 Günther, Im Osten das Grauen, S. 71/72
Auf den Heimat-Friedhöfen stehen die Gedenksteine mit dem Eisernen Kreuz, während die Gebeine der Gefallenen in fremder Erde ruhen; allein 2,2 Millionen in der ehemaligen Sowjetunion.
Hinrich Ropers, der Großvater des Verfassers, auf Fronturlaub bei seiner Familie. Der Niedersachse kämpfte in der Heeresgruppe Nord – und hatte viel Glück: Er überlebte den Krieg.
Heinrich Stühring stand im Herbst 1944 an der Westfront im Einsatz. Der Großvater des Verfassers väterlicherseits fiel bei den Endkämpfen ums Reich im heftig umkämpften Aachener Raum. Die alte Kaiserstadt wurde am 21. Oktober von US-Truppen erobert.
1Manfred von Plotho, Offizier im Infanterieregiment 194/71. Division, an seine Frau, Dokumentiert unter www.museumsstiftung.de/feldpost(3.2008.2195)
2Armeebefehl AOK 11, Abt. Ic/AO Nr. 2379/41 vom 20.11.1941
3Franz Schmid, Angehöriger der 17. Panzerdivision, Träger der Nahkampfspange in Gold (s. Möbius, Immer wieder Nahkampf, S. 66)
4Neitzel/Welzer, Soldaten
5Günther, Im Osten das Grauen, S. 71/72
1. Teil
Der Überfall
22.06.1941-05.12.1941
„Ich bin überzeugt, daß unser Angriff wie ein Hagelsturm über sie hinweggeht.“
Adolf Hitler am 1. Februar 1941 zu Feldmarschall von Bock.
BArch, 146-1987-121-09A
Hitler und Mussolini besichtigen die Ostfront, hier in Begleitung von Generalfeldmarschall Gerd von Rundstedt (l.), dem Oberbefehlshaber der Heeresgruppe Süd.
Die Ausgangslage (Karte): Der Schwerpunkt des deutschen Aufmarsches liegt nördlich der Pripjet-Sümpfe bei der Heeresgruppe Mitte, die mit zwei Panzergruppen dotiert ist. Im ersten Treffen treten gut drei Millionen deutsche gegen viereinhalb Millionen sowjetische Soldaten an. Bei den Panzern ist das Kräfteverhältnis noch ungünstiger für die Angreifer.
I. Der längste Tag
22.06.1941
„Bin ich ein Mörder?”
Diese erschütternde Frage stellt der Feldwebel Taplick am späten Abend des 22. Juni 1941 dem Leutnant Hundrieser. Was muss schon der erste Tag an der Ostfront über die Menschen gebracht haben, dass ein erfahrener Kämpfer mit Tränen in den Augen laute Selbstzweifel bekundet?
*
So wie die beiden Soldaten, können viele ihrer Kameraden in dieser kurzen, unruhigen Sommernacht kaum schlafen. Trotz aller Anstrengungen, die bereits der erste Tag an der Ostfront gefordert hat. Viele stehen noch ganz unter den heftigen Eindrücken der letzten Stunden, der blutigen Ouvertüre zwischen Ostsee und Schwarzem Meer. Nach den vorangegangenen Feldzügen gegen Polen, Norwegen, Holland, Belgien, Frankreich, Jugoslawien und Griechenland wissen zwar Millionen Soldaten, was Krieg bedeutet. Aber für Hunderttausende ist es, bei aller Siegeszuversicht, auch eine neue, beunruhigende Erfahrung. Die Wehrmacht besteht nicht nur aus lauter Routiniers, als sie in Russland einmarschiert. Längst nicht jeder Soldat hat Gefechte mitgemacht, um die fürs Überleben an der Front so unerlässlichen Kampferfahrungen sammeln zu können. Und die vermeintlich hoch mobile Blitzkriegarmee rollt zwar mit 3.350 Panzern, zusammengefasst in Panzerdivisionen, über die Grenze. Aber dahinter traben 625.000 Pferde an. Marschieren bis zum Umfallen wird auch in diesem Feldzug das harte Los für die Masse der Soldaten sein. Gleich am ersten Tag müssen viele Männer Dutzende Kilometer zu Fuß zurücklegen. Der Landser, wie der einfache Infanterist genannt wird, schleppt in der Regel 12,5 Kilo Marschgepäck (Stahlhelm, Gewehr, Munition, Spaten, Rucksack). 6Durch Hitze, Rauch und Staub.
Eines wird schon dieser erste Kriegstag für viele Soldaten, die Feindberührung erleben, gemein haben: Der Charakter der Kämpfe im Osten trägt ungewohnte, härtere Züge. Vor allem im Vergleich zum „ritterlich” geführten Westfeldzug 1940. Jedenfalls wenn man soldatisches Denken zugrunde legt. Erschossen, erschlagen, erstochen, verbrannt und zerfetzt wurden natürlich auch in Frankreich Zehntausende Menschenleiber. Allein die Wehrmacht beklagte 46.000 Tote in dem gut sechswöchigen Westfeldzug. 7Die anfangs gemeldete Zahl von rund 30.000 Gefallenen hat sich, obwohl bis heute vielfach übernommen, bereits 1944, im Rahmen einer Nacherhebung, als viel zu niedrig erwiesen.
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