„Ich begleite dich.“
Als er die erste Stufe betrat, berührte ihn zaghaft eine kühle Hand. „Verzeiht! Ich wollte Euch nicht verärgern“, sagte Syn niedergeschlagen.
„Euch trifft keine Schuld, Syn. Allerdings ersuche ich Euch, meine Gastfreundschaft nicht länger in Anspruch zu nehmen. Wie Ihr bereits erwähntet, muss ich mich um mein Bündnis kümmern.“
„Selbstverständlich“, verneigte sich Syn pflichtgemäß. „Ich werde noch in dieser Stunde nach Asenheim zurückkehren. Ich danke Euch für Eure Gastfreundschaft.“
„Möge das Schicksal Euch wohlgesonnen sein“, verabschiedete Jarick sie höflich.
Der Ase sah seiner aufgezwungenen Verlobten hinterher, als sie sich langsam entfernte. Sein Blick flog durch das Foyer der Burg. Gersimi war nirgends zu sehen, jedoch spürte er ihre Aura auf dem Burghof. Sie tat ganz gut daran, ihn nach ihrem ungebührenden Benehmen zu meiden.
Gemeinsam mit Tristan erklomm er die Stufen und ging den Korridor entlang, der zu Nelas Kemenate führte. Die Unruhe, die er bereits am Morgen gespürt hatte, kehrte zurück. Ein drohendes Unheil lag in der Luft. Ganz konnte er diese Bedrohung nicht benennen, es war nur ein Gefühl, das sich in seinem Innern mit jedem Schritt verstärkte. Doch als er vor Nelas Tür stand, bemerkten seine lysanischen Instinkte, dass sie sich nicht in ihrer Kemenate befand.
Unbeherrscht stieß er die Tür auf. Entsetzt starrte er in das Gemach. Hedda lag bewusstlos neben dem gedeckten Frühstückstisch. Von Nela fehlte jede Spur.
„Hedda!“, kniete Tristan sich neben die Magd und berührte sie sanft an der Schulter. Doch das Mädchen reagierte nicht. Jarick trat an den Tisch heran, nahm einen Becher in die Hand und roch daran. Seine Hand ballte sich zur Faust, als er den schwach süßlich-bitteren Geruch des Giftes wahrnahm.
„Dämmerschlaf“, benannte Jarick den geschmacklosen Trunk.
„Nela antwortet nicht“, entfuhr es Tristan entsetzt.
„Sie kann nicht. Der Dämmerschlaf hüllt ihren Geist ein. Wir müssen warten, bis die Wirkung nachlässt.“ Es fiel Jarick schwer, die Worte auszusprechen und sich selbst zu einem kühlen Vorgehen zu zwingen. Unüberlegte Handlungen würden Nela nicht retten, sondern ihre Lage noch verschlechtern. Zwanghaft kämpfte Jarick gegen sein rachedurstiges Lysanen-Ich. Keineswegs durfte er die Kontrolle über sich verlieren und jedem, dem er auf der Suche nach seiner Minamia begegnete, seinen Zorn spüren lassen.
„Sie muss noch auf der Burg sein.“
„Nein“, enttäuschte Jarick seinen Schüler. Er konnte Nelas Aura nicht spüren. Jarick sah auf seine Hand, konzentrierte sich auf die unsichtbaren Schnüre. Nela befand sich in Asgard. Außerdem konnten die Entführer noch nicht weit sein. Als Jarick zu dem Ausritt mit Gersimi und Syn aufbrach, hatte er Nelas Aura innerhalb der Burgmauern gespürt.
„Ich werde mit den Wachen sprechen. Wehe dem, der Nela mit ihrem Entführer entkommen ließ“, entfuhr es Tristan wütend, bereits aus der Tür hinaus, bevor Jarick sich aus seiner Starre befreien konnte. Er fasste es nicht, dass Nela in kürzester Zeit zweimal entführt wurde. Sie war doch für alle nur seine Schülerin. Was bei Hel, brachte die Nornen dazu, ihr solches Leid widerfahren zu lassen?
„Wer hatte Wache am Tor?“, verlangte Jarick zu wissen, als er ins Quartier der Wachen trat. Tristan redete bereits auf den Obermeister ein.
„Ansu“, verneigte sich der Obermeister, „dieselben, die auch jetzt am Tor sind.“
Jarick trat vor die Tür, sah zum Tor und beobachtete die Wachhabenden. Gerade überprüften sie eine Magd, die einen Korb mit Gemüse bei sich trug. Sie schäkerten mit ihr. Unbemerkt kam ein Knecht herein. Jarick biss die Zähne zusammen. Er konnte nicht fassen, dass seine Anordnung so sträflich missachtet wurde.
„Das glaube ich jetzt nicht“, entfuhr es Tristan und marschierte wütend auf die Wachhabenden zu. Auch seinem Schüler war es nicht entgangen, dass die menschlichen Huscarls ihre Arbeit unzureichend nachgingen.
„Huscarl“, rief Jarick dem Obermeister seiner Burg Glitlindi zu, „ersetzt die Wachhabenden durch gehorsame Huscarls.“ Jarick wartete die Bestätigung des Obermeisters nicht ab, sondern ging schnellen Schrittes zum Tor, wo Tristan bereits die Huscarls vorwurfsvoll auf ihre Unachtsamkeit aufmerksam machte.
„Kümmert Euch um Eure Angelegenheiten, Alvare“, blaffte ihn einer der Wachhabenden an.
„Ihr missachtet den Befehl Eures Ansus“, entfuhr es Tristan erzürnt.
„Wirklich? Wir überprüfen diese Magd doch mit viel Sorgfalt“, lachte der zweite Wachhabende anzüglich.
„Außerdem“, fügte der andere noch hinzu, „passiert hier doch nichts. Es ist der langweiligste Ort in ganz Asgard.“
„Ist dem so?“, hakte Jarick kalt nach.
Erschrocken wandten sich die beiden menschlichen Huscarls zu ihrem Herrn um. „Ansu“, sprachen sie ihn unisono ehrfürchtig an, während sie eine Verbeugung andeuteten.
„Ihr missachtet meinen Befehl, und dazu habt Ihr nichts Besseres zu tun, als diese Magd zu belästigen. Ihr seid unwürdig, noch länger Lidam meiner Sebjo zu sein.“
„Ansu, es ist doch nichts geschehen“, versuchte sich der Kleinere herauszuwinden.
„Unter Euren Augen wurde meine Schülerin entführt. Wie konnte das geschehen? Wenn Ihr Eure Aufgabe gewissenhaft erledigt hättet, wäre das nicht passiert.“
Furchtsam, was ihnen nun bevorstand, gaben sie sich schuldbewusst, doch Jarick konnte es ihnen ansehen, dass sie sich keiner Schuld bewusst waren.
„Hat jemand eine bewusstlose Frau aus diesem Tor hinausgetragen?“
„Nein, Ansu.“
„Wurde eine große Truhe, in die ein Mensch passen würde, an diesem Morgen aus der Burg gebracht?“
„Ja, Ansu. Vor nicht all zu langer Zeit passierte ein Händler das Tor.“
„Warum habt ihr die Kiste nicht durchsucht?“
„Es gab keinen Grund, den Tand des Händlers zu durchwühlen.“
„Wie lautete mein Befehl?“, presste Jarick die Worte wütend heraus.
„Jeden und alles zu überprüfen, Ansu“, wiederholten die Wachhabenden seine Anordnung.
„Obermeister, sperrt diese beiden in den Kerker. Ich befasse mich mit ihnen, wenn ich zurück bin.“
„Tristan, hol unsere Pferde“, befahl Jarick kühl.
„Was ist geschehen?“, wollte der Hausmeier wissen, der auf Jarick zu gelaufen kam, als der Obermeister die beiden Befehlsbrecher zum Kerker führte. Beide baten inständig um Gnade, doch Jarick fand für sie momentan kein Gehör. Er musste sich zügeln, um sie nicht auf der Stelle zu bestrafen. Zuerst musste er Nela finden.
„Meine Schülerin wurde entführt. Gnaden dem Entführer die Nornen, wenn ich ihn finde“, stieß Jarick viel zu zornig hervor. „Die Magd Hedda liegt bewusstlos in der Kemenate meiner Schülerin. Bringt sie zu einem Heiler.“
„Natürlich, Ansu.“ Augenblicklich befolgte er der Anweisung.
In vollem Galopp preschten Jarick und Tristan den Weg gen Norden. Es war unwahrscheinlich, dass dieser vermeintliche Händler in südlicher Richtung unterwegs war, denn sonst wäre er das Risiko eingegangen, ihn zu treffen.
„Ich denke, dass er sich im Schutze des Waldes hält“, erwog Tristan.
„Ja. Ihm muss bewusst sein, dass wir Nelas Verschwinden schnell bemerken“, stimmte Jarick seinem Schüler zu.
Jarick richtete seine Sinne auf die nähere Umgebung, weitete den Radius aus, als er seine Nela nicht spürte. Schließlich gewahrte er einen Hauch ihrer Aura. „Hier entlang“, befahl Jarick und lenkte Samru in den Wald nordöstlicher Richtung.
‚Jarick, es ist schon wieder passiert‘ , erklang Nelas furchtsame Stimme in seinem Kopf. ‚Im Apfelsaft war ein Schlaftrunk und ein Mann, ein Mensch entführte mich.‘ Erleichterung durchflutete Jarick. Nela war wach und nicht mehr weit entfernt.
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