Brisbane, 2. Februar 1912
Wir lesen jetzt eine französische Zeitung hier in Australien, sie heißt Iris d'Australie und trägt auch die Schwertlilie auf der Titelseite. Sie ist natürlich nicht royalistisch. Frankreich ist ja seit Jahrzehnten keine Monarchie mehr und die Bourbonen sind noch viel länger nicht mehr an der Macht. Vater hat sich erklären lassen, dass bei der Schwertlilie jeder Franzose gleich an Frankreich denkt, so glauben es zumindest jene Franzosen, die die Zeitung herausbringen. Einige von ihnen sind noch nie in Frankreich gewesen, hat sich Vater sagen lassen. Es ist auf jeden Fall schön, die Nachrichten auch auf Französisch zu lesen, so kann ich es mit dem Englischen vergleichen und lerne die Sprache noch besser, obwohl es schon sehr gut geht. Die Auflage der Iris ist nicht sehr hoch, weil es in Australien nicht viele Franzosen gibt, vermute ich, aber die Zeitung erscheint in allen großen Städten einmal die Woche, natürlich auch hier in Brisbane.
Brisbane, 15. Februar 1912
Zu Vaters Geburtstag habe ich mich in Unkosten gestürzt. Es war ein verlockendes Angebot. In einer Buchhandlung habe ich Zolas Rougon-Macquart gefunden. Es sind zwanzig Bände, im Original auf Französisch. Die Ausgabe stammt aus dem Jahre 1903. Ich habe über Zola im Gil Blas gelesen, als wir im letzten Oktober auf dem Schiff unterwegs hierher waren. Der Händler hat es in seiner Antiquariatsecke präsentiert. Er hat mir verraten, dass er das Werk seit Jahren besitzt und bisher nichts davon verkauft hätte, sodass alle Bände noch beisammen sind. Er hat mir einen guten Preis gemacht. Ich habe natürlich nicht gleich alle Bücher gekauft. Wir haben vereinbart, dass ich jeden Monat drei Bände bekomme und auch erst dann zahle. Im November habe ich sie somit alle beisammen. Zu Vaters Geburtstag habe ich also drei Bände präsentieren können, »Das Glück der Familie Rougon«, »Die Beute« und »Der Bauch von Paris«. Vater hat sich gefreut. Ich habe ihn dann auch genötigt, schnell zu lesen. Er muss drei Romane pro Monat schaffen, denn schon im März hole ich die nächsten Bände aus der Buchhandlung.
Heute am 17. bin ich siebzehn geworden und es war auch noch ein Sonntag, ein wunderschöner Tag. Wir haben gefeiert, nur Vater und ich. Wir sind am Vormittag in die Kirche gegangen, was wir nicht sehr regelmäßig tun. Heute wollte ich es aber unbedingt. Es war schön, weil wir nicht viele Leute kennen und die, die wir kennen, sehen mich nicht mehr fragend an. Eigentlich hat noch nie jemand gefragt. Ich habe mir am Anfang eingebildet, dass ich eine Geschichte erfinden müsste, warum ich dieses Kind ohne einen Vater austrage. Ich bin froh darüber, dass ich es nicht getan habe. Meine Hebamme hat in ihrer Kundschaft noch fünf andere Frauen, die wie ich nicht über den Vater ihres Kindes sprechen. Ich vermute, dass einige von ihnen den Vater gar nicht kennen. Mir geht es da zum Glück anders. Diese Tatsache ist mir wichtig, auch wenn Onoo sich bisher nicht bei mir gemeldet hat. Insgeheim hoffe ich noch immer, dass er eines Tages vor unserer Tür steht, dass er mich überraschen will und dann selbst überrascht ist, wenn er mich sieht. Mein Bauch ist schon so groß. Ich hätte nie gedacht, dass er so groß werden würde. Der Arzt sagt, dass es noch nicht das Ende sei. Es sind immerhin noch fünf Wochen bis zur Geburt. Onoo würde sich jedenfalls sehr wundern, in diesem Zustand vermutet er mich bestimmt nicht. Ich überlege, was ich überhaupt erwarte, was ich von Onoo erwarte. Ich habe ihm zwei Briefe geschrieben. Es waren immerhin zwei, einen im letzten November und einen vor gut acht Wochen, im Januar. Er muss sie längst erhalten haben, doch er hat bis jetzt nicht geantwortet, was meine eigene Schuld ist. Ich habe ihm nicht von meinem Zustand berichtet, weil ich nicht wollte, dass er aus Verantwortung, sondern aus Liebe zu mir kommt. Wenn ich ihm jetzt die Wahrheit schreibe, ihm einen dritten Brief schicke, dann wird er mir nicht glauben. Ich habe auch schon überlegt, mit meinem Kind, wenn ich es dann bekommen habe, nach Ua Huka zurückzukehren. Ich weiß nur nicht, wie ich Onoo nach so vielen Monaten davon überzeugen, kann, dass es sein Kind ist. Ich habe zunächst beschlossen, erst einmal Mutter zu werden.
Ich träume in den letzten Wochen viel wirres Zeug. Einmal habe ich mich über eine Wiege gebeugt und in dem Bettchen so viele Kinder liegen sehen, dass ich sie nicht zählen konnte. Sie sahen alle gleich aus, sie hatten alle ein Kleidchen an und eine Haube über dem winzigen Gesicht. Dieser Traum hat mich aber davon überzeugt, dass ich ein Mädchen gebären werde. Ich habe auch von Onoo geträumt, wie kann es anders sein. Ich denke es belastet mich, dass er nicht bei mir ist. Im Traum habe ich mich in dem Haus seiner Familie auf Ua Huka gesehen. Ich lag im Schlafraum seiner Eltern und alle Familienmitglieder, Onoos Brüder und seine Schwester Vanessa standen um das Bett herum. Onoo und seine Eltern standen im Hintergrund. Sie haben über mich gesprochen, aber ich konnte sie nicht verstehen, weil das Kind, das auf meinem Bauch lag, so laut geschrien hat. Es war alles so merkwürdig real.
Ich warte auf mein Kind. Die Hebamme war jetzt jeden Tag bei mir. Sie hat mich untersucht und jedes Mal den Kopf geschüttelt, weil es noch nicht so weit ist. Ich erinnere mich, dass der Arzt damals von Mitte April gesprochen hat, aber diese Prognose liegt lange zurück. Ich hoffe trotzdem, dass ich bald von dieser Last befreit werde. Noch mehr als die Last wiegt aber die Spannung über das, was da in meinem Bauch herangewachsen ist. Vater hat sich zwei Wochen freigenommen. Er ist ebenfalls in Erwartung.
Gestern wurde in der Zeitung ausführlich über das Schiffsunglück berichtet. Dass so ein riesiges Schiff überhaupt untergehen kann, bleibt mir ein Rätsel. Und dann die vielen Menschen, die nicht mehr gerettet werden konnten. Der Herold schreibt von weit über tausend Ertrunkenen. Ich werde neues Leben gebären, so ist der Lauf, Menschen gehen, Menschen kommen.
Heute Morgen habe ich geglaubt, es wäre so weit. Ich hatte starke Rückenschmerzen. Ich habe es noch ausgehalten und gewartet, bis die Hebamme zu ihrem täglichen Besuch bei mir vorbeischaute. Sie gab dann Entwarnung und hat mir gezeigt, woran ich erkennen kann, ob es losgeht. Außerdem würde ich es höchst wahrscheinlich an den Wehen merken. Wir sind noch einmal alles durchgegangen, obwohl sie es mir schon so oft erklärt hat. Meine Hebamme ist für eine Hausgeburt und will mich erst ins Krankenhaus bringen lassen, wenn es wirklich notwendig ist. Manchmal glaube ich, ihr ausgeliefert zu sein, dann denke ich aber wieder, dass ich bei ihr in guten Händen bin. Vater ist ausgerechnet heute wieder zur Arbeit gegangen, obwohl er noch den Rest der Woche freigehabt hätte. Er will sich seinen Urlaub aufsparen, für die Zeit, wenn es wirklich geschieht. Vater ist so merkwürdig aufgeregt. Ich glaube es liegt daran, dass er bei meiner Geburt nicht dabei sein konnte und jetzt Verpasstes nachholen will. Ich bin dankbar für seine Fürsorge.
Tom ist schon drei Wochen alt. Ich finde erst jetzt die Kraft und Zeit, meinem Büchlein wieder ein paar Zeilen anzuvertrauen. Ich habe bis kurz vor Pfingsten im Krankenhaus gelegen. Die Geburt war sehr anstrengend, obwohl ich es jetzt, nach drei Wochen, gar nicht mehr so empfinde. Mein Kind hat all dies verdrängt, das große Glück ihn in den Armen zu halten. Vater hat mitgezählt. Er sagt, ich habe mich fast fünfundsechzig Stunden gequält, zweieinhalb Tage lang, von der ersten heftigen Wehe bis zu dem Zeitpunkt, als die Hebamme mir mein Kind gegeben hat. Es ist nun doch kein Mädchen geworden. Tom, ich hatte erst an Thomas gedacht, was würdiger klingt, aber jeder wird ihn ohnehin sein Leben lang nur Tom rufen und da habe ich es gleich so festgelegt. Tom hat dunkelbraune Locken und braune Augen, wie Onoo. Seine Hautfarbe ist recht hell, ich hätte damit gerechnet, dass sie dunkler sein würde. Tom soll sich seiner Herkunft niemals schämen müssen. Er soll ein stolzer Marquesaner sein, ein französischer Marquesaner, der wohl in dem Vielvölkerstaat Australien aufwächst, so wie es scheint. Wir leben alle nicht dort, wo unsere Wurzeln sind. Dies scheint das Schicksal unserer kleinen Familie zu sein. Natürlich ist Vater ganz stolz. Es gab bisher keine Männer in unserer Familie, das hat er extra betont. Nach der Geburt habe ich noch einiges an Blut verloren, darum hat die Hebamme mich schließlich doch in ein Hospital bringen lassen. Es ist aber alles gut gegangen und sie hat mir versprochen, dass es beim nächsten Kind einfacher wird. Als sie das gesagt hat, schoss es mir für eine Sekunde in den Kopf, dass doch noch alles gut werden könnte. Mir kam in den Sinn, dass Onoo mich besucht und wir hier in Brisbane oder auf Tahiti heiraten und in den nächsten Jahren weitere Kinder bekommen würden. Dieser Gedanke beherrschte mich merkwürdigerweise nur sehr kurz, sehr, sehr kurz. Dann hatte ich plötzlich so ein Gefühl, als wenn schon alles zu spät sei, als wenn Onoo und ich nicht wieder zusammenkämen. Es hat mich nicht erschreckt und ich weiß jetzt auch warum. Ich bin bis hierhin ohne ihn gekommen. Ich werde es auch noch weiter schaffen, ohne ihn. Zum Schluss habe ich noch gedacht, dass ich ungerecht sei, weil Onoo nie die Chance hatte, etwas von seinem Sohn zu erfahren, oder doch. Wenn er auf meine letzten Briefe geantwortet hätte, dann hätte er es auch erfahren.
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