Inzwischen nieselte es nicht mehr, der Regen platterte direkt ins Wartehäuschen. Wir hockten uns nebeneinander auf die schmale Betonbank an der hinteren Wand. Schweigend neben einem Jungen zu sitzen, war mir peinlich, deshalb plapperte ich einfach drauflos. Ich erzählte Valentin von unserem Flug nach Italien, von der Renovierung unserer alten Villa, von Chris’ gruseligem italienischen Familienanhang und von dem Ärger, den ich wegen des Tickets zu Hause hatte. Sogar den Streit meiner Eltern erwähnte ich.
„Das kenne ich“, sagte Valentin. „Eltern sind unberechenbar, kriegen sich in die Haare wegen nichts, zumindest kommt es einem so vor, und du stehst da und denkst, dass es deine Schuld ist, dabei hatten sie vorher schon Krach, nur dass du davon nichts mitgekriegt hast, weil sie dich natürlich schonen wollen, und das Ergebnis ist dann irgendwann ein richtig großer Krach, und du weißt überhaupt nicht, was plötzlich los ist. Mach dir also keine Sorgen, du hast damit nichts zu tun, du darfst das nur ausbaden.“
Wow! So hatte noch kein Junge mit mir gesprochen. Und was er sagte, klang unglaublich klug. Ich guckte ihn das erste Mal richtig an.
„Die Sommersprossen habe ich immer, auch wenn’s schneit.“ Er lächelte entschuldigend.
In dem Moment stürmte Chris ins Wartehäuschen. Sie bibberte. „Hier seid ihr!“
Valentin guckte mich überrascht an: „Wieso ihr?“
„Was für ein hübsches Paar!“, grinste Chris.
Was für eine dämliche Bemerkung!
„Ich bin übrigens Chris, Felis beste Freundin.“
Das Strahlen kehrte in Valentins Gesicht zurück. „Ach so!“
Ich stand auf. „Los jetzt, Krisensitzung. Meine Mutter erlaubt mir Italien nicht.“
Chris blickte von mir zu Valentin und wieder zu mir. „Und wohin?“
„Weiß ich noch nicht.“
Ich ging voraus. Nach einer Weile drehte ich mich um. Wo blieb Chris denn? Worüber redete sie mit Valentin?
Endlich kam sie hinterher.
„Gute Reise!“, rief Valentin.
Ich winkte kurz.
„Danke!“, rief Chris zurück. Sie drückte sich an mich. „Der ist ja niedlich! Wo hast du den denn her?“
Das klang, als hätte ich mir einen neuen Pulli gekauft.
„Worüber habt ihr denn noch so lange geredet?“
„Gar nicht lange. Er hat mich nur nach deiner Handynummer gefragt.“
„Und?“
Chris grinste und rannte los.
„Du hast sie ihm gegeben?“, schrie ich empört und rannte ihr hinterher.
Wir kamen völlig durchnässt bei Chris zu Hause an, wechselten schnell die Klamotten und schlüpften unter zwei dicke Daunendecken auf der Matratze unter Chris’ Hochbett.
Ich schüttelte grimmig den Kopf. „Du kannst ihm doch nicht einfach meine Handynummer geben!“
Chris zuckte die Schultern. „Wieso denn nicht? Ihr passt wirklich gut zusammen, das habe ich sofort gesehen.“
„Du spinnst.“
„Doch, ganz sicher!“, beteuerte Chris. „Das habe ich im Gefühl.“
Mit ihrem Gefühl ging sie mir langsam auf die Nerven.
„Hast du vielleicht auch im Gefühl, wie ich meine Mutter dazu kriege, mir Italien zu erlauben?“, fragte ich muffig.
„Ganz einfach“, erwiderte Chris zu meinem Erstaunen. „Du machst deinen Eltern einen Kompromissvorschlag. Auf Kompromisse stehen Eltern total. Du schlägst ihnen vor, wenn du jetzt mit nach Italien darfst, fährst du in den nächsten Ferien mit ihnen.“
Ich überlegte. Bis jetzt war ich immer zusammen mit meinen Eltern weggefahren. „Und wo ist da der Kompromiss?“, fragte ich.
Chris runzelte die Stirn. „Du musst es ihnen einfach so verkaufen, als würdest du ihnen damit einen riesigen Gefallen tun.“
Ich starrte eine Weile trübselig vor mich hin. Chris’ Vorschlag kam mir nicht besonders einfallsreich vor, aber ich hatte auch keine bessere Idee.
„Also schön, ich versuch’s.“
„Und wenn’s nicht funktioniert, ruf mich an, dann drohe ich damit, auch nicht zu fliegen. Dann weigere ich mich einfach, Papas neue Familie kennenzulernen, wenn du nicht mitkommen darfst, und daran will deine Psychologen-Mami bestimmt nicht schuld sein.“
Sie boxte mich in die Seite.
Ich lachte. Chris konnte ganz schön clever sein.
Es funktionierte. Bevor ich am nächsten Morgen zur Schule ging, trug ich Mama und Papa mit ruhiger, freundlicher Stimme meinen Kompromissvorschlag vor nacheinander, denn Mama saß schon in ihrem Arbeitszimmer und schrieb an ihrem Artikel, während Papa frühstückte und Zeitung las.
Außerdem redeten sie nicht mehr miteinander.
Papa nickte zu meinem Vorschlag nur kurz und sagte: „Mach dir keine Gedanken, Chris’ Mutter kriegt ihr Geld, ich habe schon mit ihr telefoniert. Aber das nächste Mal wird vorher gefragt.“
Mama war noch wortkarger, sie zupfte sich einen Stöpsel aus dem Ohr und guckte mich über den Rand ihrer Brille mürrisch an. „Also wenn’s nach mir ginge ... aber egal.“ Damit wandte sie sich wieder ihrem Computer zu.
„Und Südschweden?“, fragte ich vorsichtig.
„Abgesagt“, erwiderte Mama knapp.
Das war keine gute Nachricht. Ich wollte nicht, dass meine Eltern sich stritten und nicht mehr miteinander redeten und sogar den Urlaub absagten, auch wenn ich mit all dem wahrscheinlich gar nichts zu tun hatte, wie Valentin mir erklärt hatte. Wieso fuhren sie nicht ohne mich nach Südschweden?
„Und wieso fahrt ihr nicht ohne mich?“, hakte ich nach.
Mama drehte sich um, legte den Kopf schief und lächelte, aber es war ein unfreundliches Lächeln. „Weil wir uns beides nicht leisten können, meine Süße, Südschweden und Italien.“
Ich war also doch schuld.
Missmutig schlurfte ich in die Schule und erzählte Chris von Mamas Reaktion.
„Ach Quatsch, das sagt sie nur, um dir ein schlechtes Gewissen zu machen“, versuchte Chris mich zu beruhigen. „Oder würdest du mit jemandem in Urlaub fahren, mit dem du nicht mehr sprichst?“
Chris hatte recht. Mama wollte mir die Vorfreude verderben, und ein bisschen gelang ihr das ja auch. Aber nur ein bisschen, denn Chris hielt mich mit den Reisevorbereitungen auf Trab, und als Mama und Chris’ Mutter uns schließlich zum Flughafen brachten, war ich schrecklich aufgeregt. Ich war noch nie alleine geflogen. Gut, Chris war dabei, dennoch kam ich mir einen Moment lang sehr verloren vor, als ich mein Gepäck am Check-In-Schalter auf das Rollband stellte und mir klar wurde, dass Mama nur daneben stand und nicht mitkommen würde.
Sie war inzwischen wieder etwas freundlicher zu mir, und die Tatsache, dass ihre Tochter gleich alleine ins Flugzeug steigen und erst in einer Woche wiederkommen würde, ließ sie in letzter Minute sehr fürsorglich werden: „Hast du alles?“, fragte sie besorgt. „Und creme dich nach jedem Baden ein. Und unternimm nichts ohne Chris. Und ruf an, wenn du angekommen bist. Und benimm dich. Und sei höflich und hilf im Haushalt. Und lass deine Klamotten nicht überall rumliegen. Und geh nicht so spät ins Bett ...“
„Mama!“
Sie hob beschwichtigend die Hände. „Ich meine ja nur. Schließlich bist du Gast und gar nicht eingeplant.“
„Da machen Sie sich mal keine Sorgen, Frau Weiler“, schniefte Chris’ Mutter in ihr Papiertaschentuch. „Mein Ex-Mann soll froh und dankbar sein, dass Feline mitkommt, denn ohne sie wäre Chris überhaupt nicht geflogen. Und den Ärger möchte ich mir gar nicht erst vorstellen, den ihr Vater dann vom Zaun gebrochen hätte.“
Chris nickte heftig. Ich warf ihr einen dankbaren Blick zu.
„Tatsächlich?“ Mama guckte erst Chris, dann mich erstaunt an. „Das war mir ja gar nicht klar, dass es so wichtig ist. Tja dann ...“
„Dann vertragt ihr euch jetzt wieder, Papa und du?“, sagte ich schnell. „Du musst mir versprechen, dass ihr euch wieder vertragen habt, wenn ich aus Italien zurückkomme. Sonst bleibe ich da.“
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