Mama winkte ab. „Nun tu mal nicht so groß. Du wolltest sowieso tauschen, das hast du mir vorhin selbst erzählt.“
Papa wurde lauter. „Weil ich vielleicht auch Urlaub brauche, hast du dir das mal überlegt?“
„Ach? Und ich vielleicht nicht?“, regte Mama sich auf.
„Seht ihr, jetzt sagt ihr’s ja selbst!“, ging ich wütend dazwischen. „Deswegen wollt ihr nach Südschweden, weil ihr selbst Urlaub braucht! Dann fahrt doch, mir doch egal, aber ich fliege nach Italien, so!“
„Fliegst du nicht!“, schrie Mama mich an.
„Jetzt lass Feline doch!“
„Na klar, du hältst ihr natürlich mal wieder die Hand vor den Hintern! Bist wochenlang weg, kommst nach Hause und machst alles kaputt, was ich mühsam aufgebaut habe!“
„ Ich mache alles kaputt!“, rief Papa erbost. „Das wird ja immer schöner!“
Ich hielt mir die Ohren zu. „Aufhören!“
Mama verschränkte die Arme. „Unter diesen Umständen habe ich auf Südschweden überhaupt keine Lust mehr!“
„Bitte, dann sag’s wieder ab!“ Papa holte tief Luft.
Mama funkelte ihn böse an. „Keine Sorge, das mache ich auch. Und du fliegst nirgendwohin, mein Fräulein“, giftete sie mich an.
„Doch!“
„Nein!“
„Das werden wir ja sehen!“
Ich rannte aus der Küche und prallte mit dem Handwerker zusammen. Sein halb voller Kaffeebecher schwappte über, der Kaffee kleckerte auf mein hellblaues Sweatshirt.
„Oh!“, sagte er mit weit aufgerissenen Augen.
„Und das nächste Mal fragen Sie gefälligst erst!“, schnauzte ich ihn an, schnappte mir meine Jacke und knallte die Wohnungstür hinter mir zu.
Das war heute schon meine zweite Flucht von zu Hause, morgens vor dem Renovierungskrach und jetzt vor dem Krach meiner Eltern. Die spinnen doch, dachte ich, während ich die Treppe hinunter aus dem Haus lief. So heftig hatten sie sich ewig nicht gestritten. Dass sie wegen Italien sauer auf mich waren, konnte ich ja noch nachvollziehen, aber dass sie sich deswegen anschrien, verstand ich nicht. Das fand ich übertrieben.
Ich zog ein Papiertaschentuch aus meiner Jeans und tupfte an den Flecken auf meinem Sweatshirt herum. Ich roch nach kaltem Kaffee. Der Junge aus meinem Traum lächelte. Er hatte schwarze Haare, jetzt erinnerte ich mich wieder. Vielleicht war er Italiener, überlegte ich. Vielleicht war er der Kellner in der Strandbar, in der ich jeden Tag einen Erdbeershake trinken würde. Oder einer der gut aussehenden Jungen am Lagerfeuer ...
Der Wind blies mir scharf um die Ohren. Am Himmel hingen dicke dunkle Wolken. Ich zog den Reißverschluss meiner Jacke ganz hoch. Ich werde nach Italien fliegen, sagte ich mir, da konnte Mama sich auf den Kopf stellen. Egal, ob ich das Ticket die nächsten zehn Jahre vom Taschengeld abbezahlen musste und wie schrecklich auch immer Chris’ Familienanhang war: Ich wollte nach Italien. Jetzt erst recht!
Ich schrieb Chris eine SMS: Stress! Komm sofort zum Anleger! Dann setzte ich meine Kapuze auf, stieg aufs Rad und fuhr los.
Als ich am Anleger ankam, nieselte es. Ich stellte mich in das kleine Beton-Wartehäuschen neben dem Fahrkartenautomaten und wartete auf Chris. Sie hatte mir auf meine SMS nicht geantwortet. Ich rief sie an, denn ich musste unbedingt mit ihr reden. Was wäre, wenn meine Mutter Ernst machte und mich tatsächlich nicht nach Italien fliegen ließ? Dann standen mir furchtbar langweilige, düstere, vernieselte Ferien inmitten von Baulärm bevor. Nein, unmöglich, ich musste mir gemeinsam mit Chris einen Plan überlegen, der nur ein Ziel haben konnte: Italien!
Ich ließ es lange klingeln, aber Chris ging nicht ans Telefon. Mist! Ausgerechnet jetzt erreichte ich sie nicht.
Eine Fähre legte an und stieß gegen den Ponton, sodass er ins Schwanken geriet. Ich mochte das, denn es fühlte sich an, als wäre ich selbst auf einem Schiff.
Ich wählte Chris Nummer noch mal.
„Hallo!“
Ich blickte von meinem Handy auf.
Ein großer Junge mit rotblonden Locken und Sommersprossen im Gesicht stand vor mir und grinste mich an.
„Hallo“, sagte ich zögernd und hielt mir konzentriert mein Handy ans Ohr, was nichts anderes bedeuten sollte als: Ich kenne dich nicht und habe zu tun.
„Ich bin Valentin! Erinnerst du dich?“
Und ich möchte dich auch nicht kennenlernen.
„Ich habe gewusst, dass wir uns wiedersehen.“
Wie bitte? Ich guckte ihn überrascht an. Er kam mir tatsächlich bekannt vor, aber ich hatte keine Ahnung, wo ich ihm schon mal begegnet war.
„Du bist da vorne beim Imbiss gestolpert und in deine Currywurst gefallen“, erklärte er strahlend, als hätte er meine Gedanken erraten.
Oh nein! Jetzt erinnerte ich mich. Er hatte mein Handy gefunden und mir hinterhergetragen, und ich hatte ihm als Dank ein klebriges Taschentuchknäuel voller Ketchup und Majo in die Hand gedrückt und war einfach abgehauen. Daher kannte ich ihn. Und nun wollte er sich an mir rächen. Das fehlte auch noch. Als hätte ich heute nicht schon genug Ärger gehabt.
Ich holte Luft. „Hör mal, das mit dem Taschentuch tut mir leid, ich hatte es irgendwie eilig, und da ...“
„Kein Problem!“, winkte Valentin ab. Er strahlte mich immer noch an.
Wahrscheinlich ist er plemplem, dachte ich.
Er sah mich mit großen graugrünen Augen erwartungsvoll an.
Ja, er war nicht ganz dicht. Eine andere Erklärung gab es für sein Verhalten nicht. Ich musste hier so schnell wie möglich weg.
„Bitte nicht wieder weglaufen!“, sagte Valentin.
Woher wusste er, was ich vorhatte? Das war mir unheimlich.
„Sag mir wenigstens, wie du heißt.“
„Feline“, antwortete ich zögernd.
„Feline? Echt? Das ist ja schön!“
Wenigstens war er für jemanden, der plemplem war, sehr nett.
„Wartest du auf jemanden?“
Ich nickte. Wie hatte er mich eigentlich erkannt? Ich hatte die Kapuze eben erst im Wartehäuschen abgenommen.
„Wie hast du mich eigentlich erkannt?“
Valentin hob die Schultern und grinste breit. „Keine Ahnung, ich habe dich eben erkannt. Auf wen wartest du denn?“
Ganz schön dreist. Das ging ihn nun wirklich nichts an, auch wenn er mir zehn Handys hinterhergetragen hätte. Auf wen ich hier wartete, war einzig und allein meine Privatangelegenheit.
„Auf deinen Freund?“
Das ging zu weit. Ich beschloss, mich woanders mit Chris zu treffen.
„Geht mich ja eigentlich auch nichts an“, druckste Valentin entschuldigend. „Ich freue mich nur so, dich wiederzusehen, ich habe fast jeden Tag geguckt, immer um dieselbe Zeit wie beim ersten Mal.“
Ich staunte. „Ob ich hier bin?“
Valentin nickte.
Wie beim ersten Mal. Wie das klang! Er war zwar ein bisschen durchgeknallt, aber irgendwie tatsächlich ganz nett. Ich überlegte. Ich war lange nicht am Anleger gewesen, obwohl dies einer meiner Lieblingsplätze in Hamburg war. Ich kam nur hierher, wenn es mir besonders gut oder besonders schlecht ging oder wenn ich dringend Chris treffen musste und bei mir dicke Luft war und ich nicht einfach bei ihr zu Hause aufkreuzen konnte, weil ihre Mutter krank im Bett lag, und die Eisdiele schon Saisonende hatte. Wo blieb sie überhaupt? Und wieso ging sie nicht ans Telefon?
Ich guckte aufs Display. Die Verbindung stand die ganze Zeit!
„Chris?“, brüllte ich ins Handy.
„Bin gleich da! Warte auf mich! Ich will ihn unbedingt kennenlernen!“, hörte ich sie keuchen.
Sie hatte die ganze Zeit mitgehört? Ich klickte sie schnell weg.
„Chris?“, sagte Valentin leise. Das Strahlen verschwand aus seinem Gesicht. „Dein Freund, stimmt’s?“
Ich zuckte mit den Schultern und schüttelte den Kopf. Würde er ja gleich selbst sehen, wer mein Freund war.
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